Kommentar: Liebe Männer, haben wir es wirklich so schlecht?

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Fast jeder zweite deutsche Mann fühlt sich durch die Gleichstellung diskriminiert. Eine Entwicklung, die nicht von Solidarität zeugt – und unseren männlichen Autor zum Nachdenken bringt.

Das Marktforschungsunternehmen “Ipsos” hat am 8. März, dem Weltfrauentag, eine Studie zum Meinungsbild der deutschen Bevölkerung veröffentlicht. Darin heißt es unter anderem: “60 Prozent der Männer finden, dass für die Gleichstellung schon genug getan wurde.“. Außerdem sind 45 Prozent der Männer der Ansicht, dass die Gleichstellung so weit ginge, dass sie diskriminiert würden. Traurigerweise überraschen mich diese Zahlen nicht. Auch ich beobachte schon länger eine ähnliche Entwicklung: Wir haben ein Problem in Deutschland. Mit den Männern. 

Gleichstellung und Diskriminierung könnten schließlich widersprüchlicher nicht sein. Feminismus impliziert die Berücksichtigung aller Geschlechter und wer daraus stumpfen Männerhass macht, sollte nicht als Feminist:in bezeichnet werden. Klar geht es überwiegend um Themen von nicht-Männern und es ist mir auch bewusst, dass es sich vorrangig um eine Frauenbewegung handelt. Das ist aber schlichtweg darauf zurückzuführen, dass wir Männer nie eine solche Bewegung gebraucht haben. Wir haben kaum Probleme in vergleichbarem Ausmaß, dafür haben Hunderte von männlich dominierten Jahren gesorgt. Und auch wenn die Umfragewerte etwas anderes suggerieren, einen Anspruch auf die Opferrolle haben wir nicht. 

Wieso auf den Feminismus draufhauen? 

Wie es scheint, ist einem großen Teil der männlichen Bevölkerung die vorhandene Ungleichheit nicht einmal bewusst. Oder es ist ihnen schlichtweg egal, wenn nicht sogar zuwider, die Gleichstellung aller Geschlechter voranzubringen. Dabei gibt es genug Studien, die eine Benachteiligung belegen. Zählt man unbezahlte Arbeit dazu, kommen Frauen auf mehr Wochen-Stunden im Schnitt als Männer. Außerdem schlafen und verdienen sie weniger. Einfach gesagt: Ohne die unbezahlte Arbeit von Frauen würde unsere Gesellschaft nicht funktionieren. Somit ist es wenig überraschend, dass viele Männer das Gefühl haben, dass sie durch den Feminismus diskriminiert werden. Schließlich würde eine faire Aufteilung bedeuten, dass wir mehr Care-Arbeit machen müssen. Das Bewusstsein für die eigene, privilegierte Position fehlt (oder wird als angenehm empfunden). Dafür ist aber ein ganz dickes, typisch deutsches “die wollen mir was wegnehmen”-Gefühl vorhanden, das sich in den Köpfen vieler festgesetzt hat. 

Ihr habt Angst, dass man euch etwas wegnehmen könnte?

Währenddessen haben Frauen Angst, nachts allein nachhause zu laufen. Unseretwegen. Es sind nicht alle Männer, richtig. Aber verdammt viele. Wir alle, die wir im Patriarchart aufgewachsen sind, tragen diesen Männlichkeits-Mist in uns. Ich bin überzeugt davon, dass so gut wie jeder Mann schon einmal Scheiße gebaut hat. Übergriffig war, etwas Doofes gesagt hat. Die Frage ist, wie man damit umgeht. Reflektiere ich, oder stelle ich mich hin und sage, “reicht auch mal mit dem Feminismus jetzt”? Zweites ist unreif, feige und zeugt davon, dass man sich selbst nicht hinterfragen möchte. Ich bin in keiner Weise perfekt, deshalb weiß ich, wie unangenehm und schmerzvoll ein, “tut mir leid, das war doof von mir“ sein kann. Wer in Zeiten, in denen sexuelle Übergriffe und Diskriminierung noch zur Tagesordnung gehören, aber behauptet, Frauen wären vollkommen gleichberechtigt, versucht aktiv, die Wahrheit zu verdrängen.

Wieso erlaubt ihr euch so schnell ein Urteil? 

Wir Männer haben keine Ahnung, wie das ist. Uns wird nicht hinterhergepfiffen, wir werden nicht unangemessen berührt (oder zumindest seltener), wir bekommen keine unerwünschten Bilder von Geschlechtsteilen und wir mussten auch noch nie argumentieren, wieso der Sport, den wir ausüben, eine Daseinsberechtigung hat. Mir ist es ein Rätsel, wie man aus einer so privilegierten Position heraus meint, entscheiden zu können, dass es mit der Gleichberechtigung jetzt mal reiche. Natürlich können Männer auch vergewaltigt oder belästigt werden und bestimmt kommt dieses Thema an mancher Stelle zu kurz. Das liegt aber unter anderem daran, dass es so gut wie ausschließlich als Argument gegen feministische Bestrebungen instrumentalisiert wird. Ein unehrliches Interesse an männlichen Opfern, so wirkt es. Denn über solche Diskussionen hinaus hält sich der Einsatz in Grenzen. Männer scheinen sich nur für Probleme von Männern zu interessieren, wenn es gerade um die Probleme von Frauen geht. Dabei haben beide Seiten auch alleinstehend eine Daseinsberechtigung. Also wieso muss man die Männer-haben-auch-Probleme-Thematik immer in Kommentarsektionen von Beiträgen tragen, in denen es um Frauenrechte geht? Wenn dir das Thema so am Herzen liegt, dann sprich es an. Finde ich gut. Aber mach es halt da, wo es passt. READ THE ROOM. Wenn du deinem Freund erzählst, wie doof dein Tag war, ist das Letzte, was du hören willst, dass seiner noch viel beschissener war und du dich gefälligst beruhigen sollst. 

Ich bin überzeugt davon, dass es uns allen besser gehen würde, wenn unsere Gesellschaft noch feministischer wäre. 

Auch ich habe Denkmuster, die mich stören. Manche von ihnen habe ich vielleicht noch gar nicht erkannt und sie fallen mir erst in ein paar Jahren auf. Aber lasst uns unsere fragile Männlichkeit mal einen Moment zur Seite packen und überlegen, ob es wirklich gut ist, hart zu sein, nicht über die eigenen Gefühle zu sprechen und irgendwelchen eingestaubten Geschlechterrollen nachzueifern. Feminismus bedeutet auch für uns Männer weniger Zwang und mehr Möglichkeiten, sich zu entfalten. in einer Welt, in der Männer so lange schon jegliches Machtfeld dominiert haben, kann es da wirklich so schlimm sein, vielleicht einfach mal zuzuhören? Kategorisch zu sagen “es reicht jetzt” wird der Komplexität der Sache auf jeden Fall nicht im Geringsten gerecht. Erstrebenswert wäre eine Gesellschaft, in der wir zusammenarbeiten. Wir sollten überlegen, wie wir es für alle fair gestalten können und wenn das bedeutet, dass man selbst vielleicht Privilegien abgeben muss, ist das halt so. Immerhin hätten wir diese Vorteile nie gehabt, wenn Frauen nicht nach wie vor benachteiligt wären. 

Niemand muss perfekt sein, damit sich etwas ändert

Ehrlich gesagt würde ich mir selbst nicht einmal auf die Fahne schreiben, dass ich ein großer Feminist bin. Ich gehe sehr selten auf Demonstrationen und teile keine feministischen Inhalte im Netz. Ich lebe Feminismus im Alltag, soweit es mir gelingt. Manchmal mache ich Fehler, aber ich probiere es zumindest. Das ist das mindeste in meinen Augen. Teile deine Meinung mit anderen in Gesprächen, achte darauf, dass du die Straßenseite wechselst, wenn nachts eine Frau vor dir läuft, lache nicht über irgendwelche bescheuerten sexistischen Witze und versuche, allen Menschen um dich herum, egal, welches Geschlecht sie haben, tolerant und offen zu begegnen. Wir sollten Empathie und Offenheit statt Sturheit und Ignoranz leben. Immerhin kann keine:r von uns etwas dafür, wie er oder sie geboren wurde. Für das, was wir daraus machen aber, tragen wir die volle Verantwortung. Wenn das ein Anfang-20-jähriger wie ich versucht, der zugegeben noch nicht besonders viel über das Leben weiß, kann das jeder von uns.

Source: Aktue