Mama oder Memme?: Wie mein anspruchsvolles Baby mich fast verzweifeln ließ

Mama oder Memme?: Wie mein anspruchsvolles Baby mich fast verzweifeln ließ

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Wenn die erste Zeit mit Baby ganz anders ist als erwartet, kann das ziemlich belastend sein. Habe ich ein High Need Baby, sind alle Babys sauanstrengend oder bin ich zu empfindlich? Darf man als Mama eigentlich jammern und wenn ja, wie laut? Ein Erfahrungsbericht.

Die Geburt eines Kindes ist überwältigend, heißt es. Allerdings hatte ich da wohl etwas missverstanden, als ich an Freudentränen und Glücksrausch dachte. Als meine erste Tochter auf die Welt kam, haute mich das tatsächlich um. Also so richtig wortwörtlich. Als ich im Kreißsaal wieder zu mir kam, stand ich neben mir. Und das sollte sich für ziemlich lange Zeit nicht mehr ändern. “Das entspannteste Kind ist sie ja nicht gerade”, sagte die Kinderärztin noch im Krankenhaus. Ein Satz, der mir lange nicht mehr aus dem Kopf ging.

Die Babyzeit genießen – oder?

Babys haben nun mal starke und unmittelbare Bedürfnisse – das war mir klar. Ich fühlte mich gut informiert und wusste natürlich auch, dass die erste Zeit mit Baby durchaus aufwühlend und anstrengend sein kann. Dennoch würde ich die Babymonate sicher genießen, lange Spaziergänge machen, im Frühjahr einfach unterwegs stillen und im Babykurs etwas Abwechslung finden, dachte ich. Und dann kam dieses süße, kleine Geschenk zu uns und mit ihr ein lautes, energisches NEIN zu all dem.

Das Krankenhaus, in dem ich entbunden habe, hat sich das Thema Bonding auf die Fahne geschrieben. Während des gesamten Aufenthaltes soll das Baby Haut an Haut auf Mamas Brust kuscheln. Ich fand das toll. Sie aber nicht. Ganz und gar nicht. Ich schiele rüber zu der Frau neben mir: Seliges Schnaufen bei Groß und Klein. Erster Tag, erste Verunsicherung – na danke.

Endlich fahren wir nach Hause, ab jetzt konzentrieren wir uns auf uns. Alles ist vorbereitet für unser kleines Baby, nur ich bin es offenbar nicht. Sie schreit viel und lang und laut. Und natürlich weiß ich, dass Babys das nun mal tun. “Alles ganz normal”, sage ich mir, bis es wieder losgeht. Stundenlang. “Alles ganz normal, ganz normal! Ist das noch normal? Das kann nicht normal sein! Sie hat doch irgendwas!” In höchster Rage, mit rotem Köpfchen und zitterndem Körper schreit sie ihre Anspannung heraus und wir versuchen unsere zu verbergen. Schließlich wollen wir Sicherheit geben. Wir tragen und halten und ertragen die Situation. Nach drei Monaten soll es meistens besser werden. Wurde es nicht.

Schreien, stillen, schlafen

Den Babymassagekurs brechen wir nach dem vierten Besuch ab, ohne dass auch nur ein Tropfen Babyöl je ihre Haut berührt hätte. Stillen geht leider nur im Dunkeln und nicht auf der Parkbank im Grünen. Der Kinderwagen wandert ungenutzt in den Keller. Ich schaffe einen reizarmen Alltag, der sie nicht überfordert ­– aber mich völlig fertigmacht. Mein Radius wird zunehmend kleiner, ich fühle mich immer isolierter und traue mir nichts mehr zu. Ich trage und trage und trage, aber weit kommen wir nicht. Denn sobald sie aufwacht, müssen wir schnell nach Hause. Dann geht es wieder los, das Schreien, das mir das Herz bis zum Hals schlagen lässt, das sich einfach nicht abstellen lässt.  

“Babys schreien ­– manchmal eben auch mehr”, sagt die Kinderärztin. “Das sind ausgeprägte Urinstinkte. Sie fordert ein, was sie braucht”, sagt die Hebamme. Also alles echt ganz normal? Ich bin froh, aber irgendwie auch schrecklich beschämt. Sind also die Zuschreibungen “High Need Baby” oder “Schreibaby” nur eine Ausrede für Eltern, die die Herausforderung der Elternschaft unterschätzt haben? Dann bin ich also einfach eine Memme? Die, die ihr süßes Kind zum Problem erklärt? Die, die Babybedürfnisse vielleicht einfach nicht richtig erkennt? Diejenige, die zu schnell überfordert ist? Sind die Rückenschmerzen, die Erschöpfung und die immer kleiner werdende Zahl auf der Waage meine ganz persönliche Schwäche?

Ein besonderes Temperament

Die Zeit und vor allem mein zweites Kind, das mit ganz anderen Wesenszügen auf die Welt kam, haben mich gelehrt: Nein! Kinder fordern uns. Und manche Kinder fordern mehr. Das ist weder persönliches Versagen noch Wettbewerb um den goldenen Aufopferungspokal. Es ist, wie es ist – irgendwas zwischen individuellem Empfinden und objektiven Fakten, die verzweifelte Eltern aus Schlaf- und Schreiprotokollen herauslesen. Und beides hat Berechtigung!

Einige Jahre später liegen die Strapazen der ersten Monate und Jahre von damals wie im Nebel – irgendwie für immer eingebrannt, aber dennoch liebevoll zugedeckt. Brauchen Eltern ein Etikett für ein als sehr fordernd empfundenes Baby? Keine Ahnung. Was ich aber weiß: Eltern dürfen jammern, zweifeln und angestrengt sein! Und sie sollten sich dabei ernst genommen fühlen – egal, wo genau auf dem Temperamentsspektrum sich ihr Kind befindet.

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