Mikrostress: Was Menschen anders machen, die selten an ihre Kräftegrenze stoßen

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Mikrostress gilt als eine Art von Stress, den wir nicht als solchen wahrnehmen. Was genau es damit auf sich hat und ob und wie er sich vermeiden lässt, betrachten wir hier.

Dass anhaltender Stress so ungesund ist wie eine Schachtel Zigaretten am Tag, hat sich herumgesprochen. Oder war es das Sitzen? Vielleicht war es das Sitzen. Trotzdem ist Dauerstress, ähnlich wie Sitzen und Rauchen, nach aktuellem Wissensstand ungesund. Gelegentlicher Stress hingegen ist völlig okay und sogar in unserem Interesse (gelegentliches Sitzen übrigens ebenfalls). 

So schreibt zum Beispiel der Psychiater Lawson Wulsin bei “Psychology Today”: “Wir brauchen den guten und erträglichen Stress unseres Alltagslebens – anspruchsvolle Jobs, uns um eine Familie kümmern, unseren Haushalt erledigen –, um fit zu bleiben. Unsere Stressbewältigungssysteme benötigen diese Herausforderungen, um unsere Körpertemperatur, unseren Herzschlag, unseren Blutsauerstoffgehalt, unsere Immunabwehr und all die anderen Funktionen zu regulieren, die uns jeden Tag am Leben halten.” Toxischer Stress hingegen – das heißt Stress, der unsere Bewältigungssysteme beständig überlastet –, sei zu therapieren, schreibt Lawson Wulsin, ansonsten stiege unser Risiko auf Folgen wie Diabetes, Herzerkrankungen, Depressionen oder chronische Schmerzen. Währt der Stress zu lange und ist er zu viel: Vorsicht. Haben wir immer mal wieder stressige Tage und Momente im Leben: So soll es sein.

Was aber hat es nun mit Mikrostress auf sich?

Mikrostress: Stress unter unserem Radar

Mikrostress dürfen wir als Sammelbegriff für alltägliche Stressmomente verstehen, die uns an sich so klein und unbedeutend erscheinen, dass wir sie kaum als beanspruchende Elemente in unserem Leben wahrnehmen. Vor allem zusammengenommen können sie uns allerdings so viel Energie kosten und so erschöpfen, dass sie unserem Wohlbefinden oder sogar unserer Gesundheit schaden können. Geprägt haben den Begriff vor allem Karen Dillon, Autorin und ehemalige Redakteurin der “Harvard Business Review”, und Rob Cross, Edward A. Madden Professor of Global Leadership am Babson College in Wellesley, Massachusetts. Neben einer umfangreichen Recherche haben die beiden dem Phänomen direkt ein ganzes Buch gewidmet: “The Microstress Effect: How Little Things Add Up—and What to Do About It”. 

In einem Artikel für “Harvard Business Review” nennen Dillon und Cross als Beispiele für Mikrostressmomente etwa die Situation, dass wir für einen Kollegen einspringen oder ihm aushelfen müssen, da er seine Aufgabe nicht (hinreichend) erledigt hat. Oder dass wir einer Freundin eine Verabredung absagen müssen und dabei das Gefühl haben, sie zu enttäuschen und auf etwas zu verzichten, was uns hätte gut tun können und sollen.  

Solche Ereignisse sind nicht unbedingt Erfahrungen, nach denen wir sagen würden, “ich hatte so einen stressigen Tag, ich brauche jetzt erst einmal ein heißes Bad und drei Stunden völlige Ruhe”. Es sind Erfahrungen, die zu unserem Leben dazugehören, von denen wir erwarten, dass wir sie meistern, ohne dazu regelmäßige Kuraufenthalte zu benötigen. Wenn sie allerdings gehäuft auftreten – und das tun sie laut Dillon und Cross in den Leben vieler Menschen –, könnten sie uns zermürben. 

“Wir mögen Mikrostressoren nicht bewusst als solche erkennen,”, schreiben Dillon und Cross in besagtem Artikel, “aber wie herkömmlicher Stress können sie unseren Blutdruck heben, unseren Herzschlag beschleunigen oder hormonelle oder metabolische Veränderungen verursachen.” Gerade in seiner Unscheinbarkeit kann Mikrostress als Energiemagnet unser Leben stören.

Was Menschen ausmacht, denen Mikrostress nichts anhaben kann

Sie sind achtsam

Ein wichtiger und hilfreicher Schritt, um unseren Energiehaushalt vor dem Effekt von Mikrostress zu schützen, bestehe laut Cross und Dillon darin, überhaupt eine Aufmerksamkeit und Sensibilität für diese unter dem Radar laufenden Stressmomente unseres Alltags zu entwickeln. Was sind unsere kleinen Schmerzpunkte, Aufreger und Störfaktoren, die immer wieder unsere Pläne durcheinanderbringen und uns Kraft oder Zeit kosten? Können wir die einmal benennen, schlössen sich die Fragen an: Wozu können wir Nein sagen? Was möchten wir hingegen in Kauf nehmen und akzeptieren?

Sie begreifen sich selbst als potenziellen Mikrostressor für andere

Als zweite Maßnahme, die unser Bewusstsein gegenüber Mikrostress fördern kann, empfehlen Dillon und Cross, dass wir selbst mehr darauf achtgeben, inwieweit wir uns sparen können, andere Menschen Energie zu kosten. Müssen wir wirklich nach einer Stunde nachfragen, wo die Antwort auf unsere Nachricht bleibt? Müssen wir wirklich die ehrliche Ansage unserer Freundin, dass sie nur kurz für uns Zeit hat, schnippisch kommentieren?

Sie kultivieren mehr als einen Lebensbereich

Die dritte und vielleicht hilfreichste Anregung, die die beiden in ihrem Artikel geben, lautet: Menschen, die mehr als einen Bereich im Leben pflegen, in dem sie Bedeutung und Sinn empfinden, litten laut ihren Recherchen weniger unter Mikrostress. Weil sich die Bereiche gegenseitig ausgleichen können und ihnen dabei helfen, zu relativieren. Hatte ich zum Beispiel einen mikrostressigen Arbeitstag, weil die Personalabteilung eine Vertragsänderung verschludert hat und ich in meinen Unterlagen danach suchen musste, nachdem ich selbst kurz Angst hatte, etwas verpeilt zu haben, wird es mir helfen, wenn ich am Abend im Kreis meiner Familie etwas koche oder spiele und mich mit mir nahestehenden Menschen austausche, anstatt mich weiter mit meiner Arbeit zu beschäftigen. Oder wenn ich mich beim Sport auspowere oder mich in mein Buch vertiefe. Mehreren Dingen in unserem Leben Raum zu geben, mag im ersten Moment eine Assoziation mit mehr Stress und Organisationsaufwand in uns hervorrufen, doch in der Praxis kann es oft in einem größeren Frieden resultieren.

Einordnung

Mikrostress ist ein vergleichsweise neuer, nicht wissenschaftlich fundierter Begriff für ein altes, vermutlich unabänderliches Phänomen: Das Leben ist voller kleiner, anstrengender Momente, die uns in Anspruch nehmen und müde machen können. Übersehen wir diese Momente, kann es schwer sein, unsere Müdigkeit zu akzeptieren und einzuordnen. Von daher bietet es uns weniger Schaden als Nutzen, wenn wir einen Begriff wie Mikrostress kennen und uns damit auseinandergesetzt haben.

Auf der anderen Seite brauchen wir in diesem Phänomen keine bislang unsichtbare und nun endlich entdeckte Bedrohung zu vermuten, nur weil wir es jetzt Mikrostress nennen können, sofern wir möchten. Können wir von einigen Ausnahmen abgesehen meistens gut schlafen, haben normalerweise gesunden Appetit und führen ein Leben mit ein paar Höhepunkten pro Jahr, dürfen wir davon ausgehen, dass die Mikrofreuden in unserem Alltag unserem Mikrostress in etwa die Waage halten – und brauchen uns nicht aktiv auf die Suche nach Mikrostressoren zu begeben. Alles zu fürchten und auf alles zu achten, was für uns und unser Leben schädlich sein könnte, kann mitunter schädlicher sein, als mit dem einen oder anderen Schadstoff unter unserem Radar zu leben. Womit keinesfalls gemeint ist, dass wir hemmungslos rauchen sollten – oder den ganzen Tag nur sitzen.

Verwendete Quellen: harvardbusinessreview.org, psychologytoday.com

Source: Aktue