Missbrauch in der Therapie: Red Flags, Anlaufstellen, Hintergründe

Aktuel

Grenzüberschreitungen in einer Psychotherapie sind meist schwer als solche zu erkennen. Was Warnsignale sein können und wo Betroffene Hilfe bekommen.

Vor einigen Jahren war ich bei einem Therapeuten in Behandlung. Ich habe ihm vertraut und ich würde sagen, dass er mir geholfen hat. Allerdings nicht nur. Einmal zum Beispiel, als ich ihm erzählt habe, dass ich plane, nach Los Angeles zu reisen, hat er mich mit einem erstaunt spöttischen Ton gefragt: “Was wollen Sie denn in L.A.?” Ein anderes Mal, als er auf mich auffällig schläfrig wirkte, weil seine Augen permanent zuzufallen schienen, und ich ihn fragte, ob er müde sei, antwortete er: “Das liegt daran, dass sie so emotionslos sprechen, da schlägt nichts bei mir an.” 

Heute, im Rückblick und mit Abstand, sehe ich, dass der Therapeut in diesen Situationen Mist gebaut und keinen guten Job gemacht hat. Damals hingegen habe ich mich gefragt, ob L.A. vielleicht zu groß oder zu cool für mich ist, und mich bemüht, von nun an unterhaltsamer und mit mehr Elan zu reden. Was ich mit dieser Geschichte sagen möchte: In dem Vertrauensverhältnis einer Psychotherapie kann es sehr schwierig sein, zu erkennen, wenn sich die behandelnde Person falsch verhält. Wenn sie manipuliert, ihre Macht missbraucht, Grenzen überschreitet. Mir ist nichts Schlimmes widerfahren, mein Therapeut war gelegentlich etwas daneben, kein Täter. Doch was Alexandra erlebt hat, hätte mir ebenfalls passieren können. Was ihr zugestoßen ist, kann jedem Menschen passieren, der das Pech hat, an die falsche Person zu geraten. Deshalb ist es sinnvoll, dass wir darüber reden. Dass Menschen wie Alexandra ihre Geschichten erzählen können – und wir zuhören. Weil wir sonst wie Alexandra davon ausgehen, dass der Therapeut, dem wir vertrauen, weiß, was er tut, und nichts täte, das uns schaden würde.

Missbrauch-Therapie

Rechtslage

Der Anwalt Professor Doktor Christian Laue berät und vertritt seit Jahren Menschen, die während ihrer Psychotherapie Missbrauch erfahren haben. Laut Strafgesetzbuch stehen sexuelle Handlungen von Psychotherapeut:innen gegenüber Patient:innen unter Strafe, sofern das Opfer dem Täter in einer Behandlung “anvertraut” ist und “die Handlungen einen Missbrauch des Behandlungsverhältnisses darstellen”, schreibt der Anwalt in einem Aufsatz über den entsprechenden Paragrafen des Gesetzbuches, 174c. Gegenüber dem ZDF, in der Doku 37°, stellt Christian Laue zudem klar: “In der Psychotherapie ist jede sexuelle Handlung Missbrauch. Weil das Abhängigkeitsverhältnis, das bestehen muss zwischen Patient und Therapeut, missbraucht wird.” Das bedeutet: Therapeut:innen dürfen kein sexuelles Verhältnis mit ihren Patient:innen eingehen, sie begehen damit grundsätzlich eine Straftat. Und dabei spielt keine Rolle, ob sie das Opfer zu einer Handlung gezwungen haben oder nicht.

Obwohl sexueller Missbrauch in der Psychotherapie als strafbarer Tatbestand somit erfasst ist, kommt es bislang ausgesprochen selten zu Verurteilungen, selbst wenn das Opfer Anzeige erstattet und die Beweislage – wie in Alexandras Fall – eindeutig ist. Manchmal werden die Verfahren “wegen geringer Schuld” eingestellt, häufiger, so schreibt Christian Laue in seinem Aufsatz, könne die Staatsanwaltschaft “kein strafbares Verhalten erkennen”. Die Folge aus dieser extrem niedrigen Verurteilungsrate sei laut dem Anwalt, dass der Paragraf 174c aktuell praktisch keine abschreckende Wirkung auf potentielle Täter habe – und zum Schutz von Patient:innen nahezu nichts beitrage.

Anlaufstellen und Red Flags

Doktor Andrea Schleu ist unter anderem Fachärztin für Psychotherapeutische Medizin, Innere Medizin und Psychoanalyse und fungiert als Vorsitzende im Vorstand des Ethikvereins. Als gemeinnütziger, spendenfinanzierter Verein existiert der Ethikverein seit 2004, sein Kernteam bilden eine Reihe von Mediziner:innen, Psychologischen Psychotherapeut:innen sowie Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeut:innen. Das erklärte Ziel des Vereins ist, Ethikstandards in der Psychotherapie zu etablieren und zu wahren.

Patient:innen, die im Rahmen ihrer Psychotherapie Grenzverletzungen erleben, können sich an den Ethikverein wenden und beraten lassen – kostenlos, niedrigschwellig und vertraulich.

Ich habe mit Andrea Schleu gesprochen und sie gebeten, mir, sofern möglich, einige Red Flags zu nennen: Dinge, die in einer Psychotherapie auf keinen Fall passieren sollten, die Anlass zu Skepsis und Vorsicht sind, wenn wir sie als Patient:innen in einer Behandlung erleben. Aus diesem Gespräch ist folgende Liste entstanden:

Plötzliche Honorarveränderung: Verlangt die behandelnde Person Zuzahlungen oder erlässt Teile des festgelegten Honorars, sei das laut Andrea Schleu ein Warnsignal und es sei angebracht, dies zu hinterfragen. Gleiches gilt für fehlende Quittungen und Rechnungsbelege.

Persönliche Auskünfte: Berichte und Erzählungen aus dem Privatleben der:des Therapeut:in gehören nicht in eine Therapiesitzung. Spricht die behandelnde Person viel und zutraulich von sich selbst, sei Vorsicht geboten. Die Behandlungszeit biete Raum für die:den Patient:in und seine:ihre Not.

Rollenvermischung: “Ein Therapeut oder eine Therapeutin sollte keine weitere Rolle im Leben der Patientin oder des Patienten spielen”, sagt Andrea Schleu. Der Bekannte des Partners, Elternteil einer Klassenkameradin des eigenen Kindes, Nachbarin – besteht irgendeine private Verbindung, sei von einem Therapieverhältnis Abstand zu nehmen. “Vermischungen von privaten Beziehungen und einer psychotherapeutischen Behandlung führen in der Regel zu schädigenden Verwicklungen”, so die Ärztin.

Bekannte (Kolleg:innen, Vorgesetzte, Freund:innen …) sind bei derselben Person in Therapie: Befinden sich andere Menschen aus dem eigenen alltäglichen Umfeld bei einer Person in Behandlung, störe das das Vertrauensverhältnis. In ähnlicher Weise sei von einer Paartherapie abzusehen, sofern parallel eine Einzeltherapie von einem der Beziehungsmenschen bei der behandelnden Person stattfindet.

Therapeut:in zeigt Größenfantasien: Behauptungen wie “nur ich kann Ihnen helfen” oder “meine Behandlungsmethode ist die einzig wirksame” seien laut Andrea Schleu eindeutige Warnsignale.

Sexualisierung, Flirten, Komplimente: Sexuelle Anspielungen, Aussagen wie “Sie sind eine ganz besondere Patientin” und Schmeicheleien seien in einem Therapieverhältnis unangemessen. Davon zu unterscheiden seien wiederum Lob und Zuspruch der Art: “Sie machen tolle Fortschritte” oder “da haben Sie gut reagiert”.

Geschenke oder gemeinsame Aktivitäten: Macht der:die Therapeut:in einem Menschen, der bei ihr:ihm in Behandlung ist, Geschenke, sei das laut Andrea Schleu ebenfalls eine Grenzverletzung und Red Flag. Ebenso stellten eine Einladung zum gemeinsamen Kino-, Konzertbesuch, Spaziergang oder zum Abendessen eine Grenzverletzung dar. 

Umarmungen, Berührungen: Unter gewissen Umständen kann Körperkontakt Teil einer Therapie sein. Als Beispiel nennt Andrea Schleu etwa, dass die behandelnde Person der:dem Patient:in die Hand auf den Unterarm legt. Gegebenenfalls könne selbst eine Umarmung angemessen sein. Allerdings müssten derartige Verfahrensweisen vorab besprochen worden sein und einen erkennbaren therapeutischen Zweck erfüllen. Umarmungen zum Abschied oder intime Berührungen seien hingegen klare Warnsignale.

Beschuldigungen und Vorwürfe: Äußert sich die behandelnde Person gegenüber dem:der Patientin anklagend oder vorwurfsvoll, sei ihre Kompetenz laut Andrea Schleu in Frage zu stellen und die Therapie könne mehr Schaden anrichten als helfen.

Teilnahmslosigkeit, Desinteresse: Gleiches gelte, wenn sich ein:e Therapeut:in teilnahmslos, gelangweilt und desinteressiert zeigt. 

Angebliche Zulassungsbeschränkung auf Kurzzeittherapie: Zugelassene Therapeut:innen sind stets dazu berechtigt, Kurz- und Langzeittherapien durchzuführen. Behauptet ein:e Therapeut:in, er:sie habe lediglich eine Zulassung für Kurzzeittherapien, ist das eine Falschinformation, mithilfe derer sich die betreffende Person möglicherweise den Aufwand ersparen möchte, den Antrag für eine Langzeittherapie zu stellen. 

Zahlen

Laut ZDF-Recherchen sei davon auszugehen, dass sich derzeit jedes Jahr etwa 1.400 Fälle von Grenzüberschreitungen in psychotherapeutischen Verhältnissen ereignen. Auch nach Christian Laues Einschätzung liege die Zahl der Missbrauchsfälle in der Psychotherapie pro Jahr gegenwärtig im vierstelligen Bereich. Bei dieser Angabe stützt er sich einerseits auf eine Schätzung der Bundesregierung aus dem Jahr 1997, die damals bei einer weitaus geringeren Therapeut:innendichte 600 lautete. Andererseits nennt er den Ethikverein, mit dem er eng zusammenarbeitet und an den sich jährlich Hunderte Betroffene wenden. Rund 80 Prozent der Opfer seien übrigens Frauen, so Andrea Schleu vom Ethikverein.

Zur Einordnung dieser Zahlen: Laut statistischem Bundesamt gibt es in Deutschland etwa 48.000 approbierte Psychotherapeut:innen, 32.500 davon haben der kassenärztlichen Bundesvereinigung zufolge eine Kassenzulassung. Bedenken wir, dass einige der Missbrauchsfälle von Mehrfach- und Wiederholungstäter:innen ausgeführt werden, wird deutlich, dass grundsätzlich niemand Angst haben muss, wenn er oder sie einen Platz bekommt und eine Therapie beginnt: Missbrauch ist zwar kein absolutes Randphänomen, doch bei weitem nicht die Regel.

Fazit

Um eine Psychotherapie zu beginnen, müssen die meisten Menschen große Hürden überwinden. Zunächst einmal müssen sie selbst die Entscheidung dazu treffen, Hilfe zu wollen – das ist für viele sehr schwierig. Dann folgt die kräftezehrende Suche nach einem Therapieplatz, die oft mit monatelangen Wartezeiten verknüpft ist. In diese Mischung zusätzlich noch die Warnung hineinzuwerfen, “sei vorsichtig, du könntest an einen Menschen geraten, der unfähig ist und seine Position ausnutzt, um dich in welcher Form auch immer zu missbrauchen”, ist sicherlich keine Aufgabe, um die sich allzu viele Leute reißen würden. Doch wenn wir darüber schweigen, das Thema tabuisieren, tun wir den Täter:innen einen Gefallen. Und den Opfern Unrecht. Und wir tragen dazu bei, dass potenzielle Opfer unaufgeklärt und schutzlos bleiben.

In einem psychotherapeutischen Verhältnis besteht ein Machtgefälle: Die Person, die Hilfe leisten kann, hat mehr Macht als die Person, die Hilfe sucht. Wir wissen aus unzähligen anderen Bereichen, dass das nicht immer für beide Beteiligten gut geht. Dass einige Menschen Macht missbrauchen. Das ist aber kein Grund, solche Situationen zu meiden. Die meisten Therapeut:innen in Deutschland sind engagiert, kompetent, vertrauenswürdig und helfen ihren Patient:innen. Diejenigen, die es nicht sind, auf die gilt es, mit dem Finger zu zeigen und aufmerksam zu machen. Ihnen ihre Macht zu nehmen. Es gibt keinen Anlass zu Pessimismus oder Angst. Zusammen sind wir stärker.

Source: Aktue