Pflege zu Hause: Armutsfalle: Wie Pflege Frauen arm macht – und was die Lösung wäre

Aktuel

Über drei Millionen Frauen pflegen zu Hause ihre Angehörigen und nehmen dafür hohe Einbußen in Kauf – auch finanziell. Denn nur jede dritte kann dabei noch in ihrem Beruf arbeiten. Eine Armutsfalle, sagt Verena Bentele, Präsidentin des Sozialverbandes VdK. Und erklärt, was Abhilfe schaffen könnte.

BRIGITTE: Jede vierte Frau, die Angehörige zu Hause pflegt, ist laut einer Berechnung des DIW von Armut bedroht. Eine erschreckende Zahl.

Verena Bentele: Ja, und man muss sich klarmachen, dass Frauen, die nicht über eine Familienversicherung abgesichert sind, auch noch ihre Kranken- und Pflegeversicherung selbst zahlen müssen. Pflege ist so ein wichtiger gesellschaftlicher Beitrag, dafür darf man doch nicht noch zur Kasse gebeten werden!

Mehr als die Hälfte der pflegenden Angehörigen verzichtet auf Hilfe durch Pflegedienste. Warum?

Pflegedienste und Plätze in der Tagespflege sind rar, und sie kosten. Je nachdem, wie viele Leistungen vom Pflegedienst eingekauft werden, bleibt weniger bis gar kein Pflegegeld übrig. Pflege ist aber ein Fulltime-Job und Unterstützung in jedem Fall wichtig, damit man nicht selbst zum Pflegefall wird. Dies gilt besonders für pflegende Eltern. Man darf nicht vergessen: Über ein Drittel der pflegenden Angehörigen hat in unserer Pflegestudie 2022 gesagt, dass sie selbst psychische und physische Beeinträchtigungen durch die Pflege haben. Das ist alarmierend.

Stehen pflegende Frauen finanziell schlechter da als Männer?

Auch wenn die Mehrheit der Pflegenden Frauen sind, sind unsere Forderungen geschlechtsunabhängig. Pflegende Männer sind ebenso von Armut betroffen.

Was hilft?

Ein Pflegelohn. Denn an der Bezahlung führt kein Weg vorbei. Da geht es schlicht um Gerechtigkeit. Nur mit einem Pflegelohn und mit einem Rechtsanspruch auf einen Tagespflegeplatz können die 6,8 Millionen Pflegebedürftigen, die wir bis 2055 in Deutschland haben werden, versorgt werden. Das DIW Berlin hat berechnet, dass sowohl ein Lohnersatz, der sich nach dem letzten Gehalt richtet, als auch ein fester Lohn für pflegende Angehörige das Armutsrisiko deutlich verringern können. Am besten wäre es, der Pflegelohn würde sich am Pflegegrad ausrichten und damit nach der tatsächlichen Tätigkeit. Das hilft insbesondere Frauen, die bereits ihren Job ganz aufgegeben haben, sowie Eltern von pflegebedürftigen Kindern.

Im Burgenland in Österreich gibt es ein Modell, bei dem Pflegende den Mindestlohn bekommen. Eine Idee auch für Deutschland?

Es könnte funktionieren, wenn – wie wir es fordern – der Mindestlohn regelmäßig angepasst wird. Über eine öffentlich geförderte Beschäftigung könnte ein Basislohn gezahlt werden, und der Staat würde die Sozialabgaben übernehmen.

Allerdings würden Frauen dadurch in Mindestlohnjobs getrieben.  Und: Es zementiert das Rollenbild der pflegenden, sich kümmernden Frau.

Ja, in gewisser Weise zementiert es das Rollenbild. Es nimmt aber auch die gesellschaftlichen Realitäten ernst. Ein Pflegelohn wäre ein erster, wichtiger Schritt in die richtige Richtung.

Raten Sie dazu, für die Pflege eines Angehörigen beruflich zu pausieren, oder ist es besser zu versuchen, alles unter einen Hut zu bringen?

Bei der jetzigen Gesetzgebung und dem damit verbundenen Armutsrisiko kann man nur raten, beides zu vereinbaren. Aber das ist in der Realität gar nicht zu schaffen. Pflege bringt Angehörige schon ohne Beruf an psychische und physische Grenzen. Guten Gewissens kann man nicht zu einer Mehrfachbelastung raten. Nicht im Sinn der Pflegenden und zu Pflegenden. Es gibt einfach keine attraktive Möglichkeit einer Auszeit vom Beruf, und staatliche Angebote wie die Familien-Pflegezeit erweisen sich als Ladenhüter.

Sie soll es pflegenden Angehörigen ja ermöglichen, sich bis zu sechs Monate freistellen zu lassen oder in Teilzeit zu arbeiten, und der Staat gibt ein zinsloses Darlehen.

Das mag für manche genau passen. Für eine Langzeitpflege, die gerade bei Familien mit pflegebedürftigen Kindern erforderlich ist, reichen diese Angebote nicht. Da braucht es einfach mehr Zeit, mehr Geld und eine flexiblere Freistellung. Diese steht genau wie die Einführung einer Lohnersatzleistung im Koalitionsvertrag – wann und ob dies überhaupt umgesetzt wird, bleibt offen.

Wie nehmen Sie die Haltung in der Gesellschaft wahr? Wir reden viel über Elternschaft und Vereinbarkeit, aber wenig über Pflege und Vereinbarkeit.

Pflege ist oft Thema, wenn Altenheime insolvent sind oder es Probleme in der stationären Pflege gibt. Die der häuslichen Pflege bleiben viel zu oft unsichtbar, auch, weil die Pflegenden ganz anderes zu tun haben, als auf ihre Probleme aufmerksam zu machen. Oft ernte ich auch verblüffte Blicke, wenn ich darauf hinweise, dass der Großteil der Pflege in den eigenen vier Wänden stattfindet.

Müssten Firmen flexibler reagieren? Es gibt Unternehmen, die Familienteilzeit für pflegende Mitarbeitende anbieten und das Gehalt aufstocken.

Das klingt nicht schlecht, solange die Mitarbeitenden den Aufstockungsbetrag dann nicht wieder zurückzahlen oder in Vorkasse gehen müssen. Letztendlich ist es dennoch besser, wenn es einen Anspruch auf Freistellung und einen Pflegelohn für alle gibt. Weil nicht alle pflegenden Angehörigen in großen Betrieben – in der Regel können nur sie sich freiwillige Angebote leisten – arbeiten.

Perspektivisch: Wo sehen Sie positive Impulse – in der Politik, der Gesellschaft insgesamt?

Besonders diejenigen, die durch ihre Pflege ja auch für die Gesellschaft arbeiten, machen mir Mut. Mit welcher Missachtung allerdings die Politik die Leistungen in der häuslichen Pflege straft, ist ein großes Ärgernis.

Verena Bentele, 42, ist seit 2018 Präsidentin des VdK, des größten deutschen Sozialverbands. Zuvor war sie vier Jahre Behindertenbeauftragte der Bundesregierung. Der VdK setzt sich für soziale Gerechtigkeit ein. Die aus Baden-Württemberg stammende Bentele ist zudem erfolgreiche Wintersportlerin.

Heftbox Brigitte Standard

Source: Aktue