Sad Girl Trend: Wenn Mädchen mit psychischen Erkrankungen flirten

Aktuel

Beim Sad Girl Trend inszenieren Mädchen in den sozialen Medien psychische Erkrankungen als etwas Ästhetisches oder Glamouröses. Was steckt hinter dem Trend und warum ist er so gefährlich?

Schlieren von Wimperntusche laufen über makellose Haut und rot geränderte Augen blicken leer in die Ferne, dazu ein trauriger Spruch, ein melancholischer Song oder der nostalgische Sepia-Filter – solche Bilder und Videos gibt es in letzter Zeit vermehrt auf Social Media zu sehen. Unter dem Hashtag #sadgirl zeigen sich Mädchen und junge Frauen von der verletzlichen Seite und verleihen Trauer und Schmerz eine Plattform. Es scheint fast so, als wäre es in diesen Kreisen cool, eine psychische Erkrankung zu haben – zumindest solange sie sich ästhetisch in Szene setzen lässt.

Psychische Erkrankungen mit Coolness-Faktor?

Depressionen, Angststörungen, Traumata – psychische Krankheiten gelangen immer mehr in den Fokus der Öffentlichkeit. Zum Glück muss man sagen. Denn obwohl sie weit verbreitet sind und die Zahl der Betroffenen jährlich steigt, haftet immer noch das Stigma an ihnen. Laut Statistischen Bundesamt waren psychische Erkrankungen im Jahre 2021 in Deutschland die häufigste Ursache für Krankenhausbehandlungen von Zehn- bis 17-Jährigen. Zudem leben bundesweit knapp 18 Millionen Menschen mit solchen Diagnosen, die oft mit schwerwiegenden Einschränkungen im Alltag und Leid verbunden sind – auch für die Angehörigen. Psychische Erkrankungen sind nicht nur die zweithäufigste Ursache für Krankheitstage im Beruf, sie sind DGPPN zufolge auch der häufigste Grund für Frühverrentungen.

Dass wir Gefühlen, wie Trauer und Schmerz keinen Riegel mehr vorschieben, sondern offener darüber reden und vermehrt auch Menschen in den sozialen Netzwerken ihre Plattform nutzen, um mit dem Tabu zu brechen, ist gut. Problematisch wird es aber dann, wenn die Krankheiten nicht nur thematisiert, sondern als etwas Erstrebenswertes und Glamouröses dargestellt werden. Genau das passiert beim Sad Girl Trend. Vor allem Mädchen und junge Frauen teilen unter dem Hashtag #sadgirlclub Bilder und Videos von sich, auf denen sie weinend mit glasigen Augen oder traurigem Blick und einer Zigarette im Mund zu sehen sind. Das Ganze wird gerne in Schwarz Weiß gepostet und mit einem melancholischen Zitat oder einem traurigen Songtext versehen. Das ist die Sad Girl Ästhetik. Aber woher kommt der Trend und was ist so problematisch daran, psychische Krankheiten zu romantisieren?

Daher kommt der Sad Girl Trend

Ist es der Klimawandel, die Nachwirkungen der Pandemie oder die vielen Kriege und Konflikte auf der Welt? Jugendliche scheinen vermehrt das Bedürfnis zu haben, ihrer Traurigkeit Ausdruck zu verleihen. Es ist cool, tiefgründig zu sein, aber neu ist es nicht. Trends kommen wieder, so können wir uns etwa alle zehn bis zwanzig Jahre auf ein popkulturelles Revival einstellen. Die Generation Z liebt nicht nur die 2000-er Mode, trägt Hüfthosen und Bauchnabelpiercing, sondern bedient sich eben auch anderen Narrative, die schon mal da waren. In den Neunzigerjahren war es der Grunge, in den Nullerjahren die Emo-Bewegung, sodass Bands, wie My Chemical Romance, Paramore oder Avril Lavigne zurzeit ihr Comeback feiern.

Auch Künstler:innen wie Lana Del Rey und Billie Eilish lieben die Ästhetik des Melancholischen – und sind wohl die Königinnen der aktuellen Sad Girl Bewegung. Während Eilish auf dem Cover ihrer zweiten Platte mit dem Titel “Happier Than Ever” (glücklicher denn je) mit leerem Blick und glasigen Augen dreinschaut, eine Träne rollt über ihre Wange, ziert Lana Del Rey ihr Album “Born to Die” (geboren um zu sterben) mit einem ebenso sehnsüchtigen wie traurigem Blick in die Ferne. In den Songtexten geht es um psychischen und physischen Schmerz und manchmal auch um einen starken Mann, der als Retter des traurigen Mädchens glorifiziert wird. In Zeilen wie “He hit me and it felt like a kiss” (er schlug mich, es fühlte sich wie ein Kuss an) von Lana Del Rey werden gewalttätige Beziehungen abgebildet und verherrlicht.

Die Sad Girls, die wir in den Medien zu sehen bekommen, sind mehrheitlich weiße junge Frauen. Laut Wissenschaftler:innen könnte die spezifische Darstellung auf die “Jungfrau in Not” zurückzuführen sein, ein rassistisches Stereotyp, das schon Shakespeare bediente: Eine junge, schöne und weiße Jungfrau – damals standen die Attribute weiß und Jungfräulichkeit auch als Synonyme für Reinheit und Unbeflecktheit –, wird entweder vom kühnen Protagonisten aus einer brenzligen Situation gerettet oder sie stirbt eines dramatischen Todes. Frauen mit tragischen Schicksalen waren damals nämlich ebenfalls im Trend.

Die Gefahr dahinter 

Durch die Sad Girl Bewegung erhalten psychische Erkrankungen einen Coolness-Faktor, traurige Gefühle werden verherrlicht und nicht als besorgniserregend eingestuft. Das kann dazu führen, dass sich Teenager in ein tieferes Loch graben, anstatt sich Hilfe zu suchen. Besonders gefährlich wird es, wenn sich die jungen Frauen gegenseitig in ihren Gefühlen bestärken und innerhalb der Community Tipps zur Selbstverletzung und riskanten Diäten austauschen. Zudem komme es häufig zu einer Dramatisierung und einer Vereinfachung von psychischen Krankheiten, die ihrer Komplexität nicht gerecht werden, sagt die Psychologin und Neurowissenschaftlerin Prof. Dr. Maren Urner in einem Interview mit dem YouTube-Format “Brust Raus”. “Damit meine ich, dass dadurch die Äußerungen einer Depression oder anderen psychischen Krankheiten in Schubladen gesteckt werden und diese nicht wirklich so dargestellt werden, wie sie in der Realität sind”, fährt sie fort.

Das Bild eines perfekt inszenierten weinenden Models wird einer psychischen Erkrankung nicht gerecht und es hilft auch der Sichtbarkeit nur bedingt, wenn Depressionen dadurch als eine Art erstrebenswerter Lifestyle verkauft werden. Eine Angststörung, die dich in deinem Alltag massiv einschränkt oder eine Depression, die dich tagelang antriebslos im Bett liegen lässt, sind mit Sicherheit nicht glamourös. Durch die vereinfachte Darstellung wird gesellschaftlich verankert, dass Depressive immer traurig aussehen müssten, dabei ist das natürlich längst nicht der Fall. Psychische Erkrankungen haben viele Gesichter und so kann auch hinter einem breiten Lachen eine Krankheit stecken. 

Source: Aktue