Sterilisation als Frau: Einfach sterilisieren? So leicht ist das nicht

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Eine junge Frau weiß, dass sie keine Kinder bekommen möchte. Deswegen beschließt sie, sich sterilisieren zu lassen. Doch so einfach ist es nicht.

Anne Ullrich ist das kurze Stück mit dem Fahrrad zum Treffpunkt gefahren. Sie wohnt in der Maxvorstadt, einem trubeligen Universitätsviertel in München. Mit Besuch zieht die 38-Jährige gerne Runden durch den stillgelegten Nordfriedhof, der als Park genutzt wird. Unter den großen, alten Buchen und Ahornbäumen ist es angenehm ruhig. Anne Ullrich ist nicht ihr richtiger Name, den möchte sie lieber nicht in einem Artikel stehen sehen. Denn ihre Mutter und andere Familienmitglieder wissen nichts von ihrer Entscheidung.

Über sich selbst entscheiden – und zwar in jeder Hinsicht

Anne Ullrich ist gewohnt, Entscheidungen zu treffen. Als Führungskraft für 150 Mitarbeitende in einem mittelständischen Betrieb muss die Maschinenbauingenieurin das sein. Direkt nach dem Treffen wird sie 300 Kilometer in die fränkische Kleinstadt fahren, in der ihr Arbeitgeber sitzt. Sie ist dort abends zum Essen verabredet. Donnerstag geht es zurück nach München in die Wohnung, die sie mit Freund Simon teilt.

Die K-Frage sei “gesellschaftlich sehr aufgeladen”, sagt Anne Ullrich. Ihr sei lange schwergefallen, die Erwartungen anderer von ihren eigenen Wünschen zu trennen. “Du bekommst vermittelt, dass jede Frau einen Kinderwunsch hat“, sagt Anne. Deswegen wartet sie, bis sie eine endgültige Entscheidung trifft. Spürt, dass sich auch weiterhin nichts in ihr regt, als die ersten Freundinnen Mutter werden. Simon lernt sie kennen, als sie beide um die 30 sind. Schon bei den ersten Dates sprechen sie offen darüber, dass bei keinem von ihnen Kinder zum Lebensplan gehören. Weil seine vorherige Freundin unbedingt welche wollte, hatte sich Simon von ihr getrennt.

Als sie das erste Mal einen Artikel liest über eine Frau, die sich sterilisieren lässt, hat Anne schnell das Gefühl, dass dieser Weg auch für sie “total passen würde”. Bis dahin hat sie 20 Jahre die Pille genommen und trotzdem ständig in Sorge vor dem “Worst Case” gelebt, wie sie es nennt. “Ich weiß nicht, wie viele Schwangerschaftstests ich in meinem Leben schon gemacht habe”, sagt Anne. Sie macht sich auf die Suche nach einer Praxis, die die OP durchführen wird.

Ein Weg voller Hürden

Doch so einfach ist es nicht. Viele Gynäkolog:innen bieten den Eingriff gar nicht an. Andere lehnen die Sterilisation kinderloser Frauen ab oder operieren erst ab 30 oder 35 Jahren. In Foren auf Facebook und anderen sozialen Medien schreiben Frauen dutzendfach, dass sie mit ihrem Anliegen nicht oder schlecht beraten wurden. Ärztinnen und Ärzte, die sterilisieren, berichten von Patientinnen, die zuvor in fünf bis zehn Praxen abgewiesen wurden.

“Es ist absolut kein Nischenphänomen, dass Frauen gesagt bekommen: In Ihrem Alter finden Sie niemanden, der das macht”, sagt Susanne Rau aus Leipzig. Die selbstständige Übersetzerin hat sich mit 28 sterilisieren lassen. Aber in den Foren las sie weiter mit. Es machte sie wütend, welche Erfahrungen andere Frauen machten. Mitte 20-Jährige, die abgewiesen werden, weil sie zu jung seien. Frauen, denen gesagt wurde, dass Sterilisationen in Deutschland unter 35 Jahren nicht erlaubt sind – was falsch ist. Susanne Rau gründete daraufhin den Verein “Selbstbestimmt steril” und erstellte eine Website mit einer Deutschlandkarte. Alle Gynäkolog:innen, die den Eingriff durchführen, werden dort mit einem roten Punkt verzeichnet.

Klickt man einen davon an, erscheinen ein Name und die Adresse einer Praxis. Ein zusätzlicher Reiter informiert, ob es Bedingungen, wie etwa eine Altersgrenze, gibt. Einzelne Punkte sind keiner konkreten Adresse zugeordnet und sind mit “Anonymer Eintrag” beschriftet. Es sind Ärztinnen und Ärzte, die die Operation anbieten, die aber nicht wollen, dass das öffentlich zu lesen ist. Auf Anfrage gibt der Verein ihre Kontaktdaten weiter.

Gesucht, gefunden

Anne Ullrich landet im Frühjahr 2021 beim Googeln auf der Seite von “Selbstbestimmt steril”. Obwohl München fast eineinhalb Millionen Einwohner hat: kein einziger roter Punkt. Erst im benachbarten Dachau findet sie einen Eintrag. Den Termin für das Vorgespräch bekommt Anne schnell. Am Tag der OP begleitet Simon sie. Ob sie nicht auch über die männliche Variante der Sterilisation, die Vasektomie, nachgedacht hätten? Nicht ernsthaft, sagt Anne. Nicht weil Simon das nicht gewollt hätte, sondern weil sie für sich endlich maximale Sicherheit wollte. Simon und sie führen eine offene Beziehung, sie erlauben sich neben ihrer Partnerschaft, andere zu daten und Sex zu haben: “Unsere offene Beziehungskonstellation spielt für meine Entscheidung sicher auch eine Rolle.” Gerade bei Sex mit Kondom sei man nie sicher vor Verhütungspannen.

Kurz vor der OP erwischt sie dann doch noch ein “Panik-Moment“, erzählt Anne: “Bist du wirklich sicher, dass du nicht willst, was die allermeisten wollen?”, “Hast du auch nichts übersehen?” Doch schnell ist sie sich wieder sicher, den richtigen Weg zu gehen. Hinterher bleibt nur ein kleiner Schnitt im Bauchnabel zurück. “Schmerzen hatte ich danach eigentlich nicht.”

Mehr Selbstbestimmung für Frauen

Prinzipiell unterscheide sich eine Sterilisation nicht von einer Knie-OP, sagt der Gynäkologe Martin Teichmann: “Altersgrenzen von 30 oder 35 sind völlig willkürlich. Die einzige rechtliche Beschränkung ist die Volljährigkeit.” Der 40-Jährige führt mit seiner Frau eine Praxis in einem kleinen unterfränkischen Ort. Mittwoch ist ihr OP-Tag. Seit sie auf der Karte von “Selbstbestimmt steril” stehen, kämen Patientinnen aus ganz Deutschland. Teils mit über 500 Kilometern Anreise, einzelne aus England, der Schweiz, eine Frau sogar aus Moskau.

Dass sie neben Endometriose- oder Tumorbehandlungen auch Sterilisationen anbieten, habe nie zur Debatte gestanden. “Wir sehen uns nicht als Moralinstanz”, sagt Martin Teichmann. “Man kann sich einen Brazilian Butt spritzen, also den Po operativ vergrößern lassen, obwohl das hochgefährlich ist. Aber Frauen sollen nicht selbst darüber entscheiden, ob sie sich sterilisieren lassen?” Das sei absurd. Er wolle niemanden zwingen, selbst zu operieren. “Aber was dringend aufhören muss, ist, dass Frauen abgewertet, nicht fachgerecht beraten werden oder Fehlinformationen bekommen.”

Aber warum dieser radikale Schritt, wo es immer bessere Langzeitverhütungsmittel wie Spiralen, Kupferketten oder Stäbchenimplantate gibt? “Es gibt Fälle, da passt einfach keines der Verhütungsmittel”, sagt Martin Teichmann. Denn sie alle können auch Nebenwirkungen haben – und ein Restrisiko sowieso. Selbst Patientinnen, die trotz der als sehr sicher geltenden Spirale schwanger sind, habe er mehrmals im Jahr in seiner Praxis. “Wir erleben Frauen, die haben keinen Geschlechtsverkehr, weil sie solche Angst vor einer ungewollten Schwangerschaft haben.”

Einmal entschieden, ein Leben lang bereut?

Nicht alle Frauen sind mit ihrer Entscheidung, sich sterilisieren zu lassen, dauerhaft glücklich. Die letzten wissenschaftlichen Erhebungen dazu, auf die sich auch der deutsche Fachverband bezieht, stammen von 1999, es war eine US-Studie mit 11 000 Teilnehmerinnen. Demnach haben 20 Prozent der Befragten, die bei der Sterilisation unter 30 Jahre alt waren, den Schritt bereut. Bei der Gruppe der über 30-Jährigen waren es nur sechs Prozent. Dabei ist aber noch nicht einbezogen, dass darunter auch Frauen mit Kindern sind. Der Anteil der Befragten ohne Kinder, die die Sterilisation bereuten, lag insgesamt bei ebenfalls sechs Prozent.

Martin Teichmann und seine Frau sterilisieren an die 50 Frauen im Jahr. “Ich habe bisher von keiner gehört, dass sie die Entscheidung bereut hat”, sagt der Mediziner. Beschwerden kämen von anderer Seite: Mehrfach hätten Gynäkologen, deren Patientinnen sie operiert hatten, bei ihnen in der Praxis angerufen. Um ihnen zu sagen, warum es falsch gewesen sei, die Frauen zu operieren. Dass diese zu jung seien, der Kinderwunsch doch später noch hätte kommen können. Und überhaupt hätten sie als ihre eigentlichen Ärzte vorher über den Eingriff informiert werden müssen. Dabei, sagt Martin Teichmann, dürfe er gar nicht ohne Einverständnis einer Patientin andere Mediziner informieren.

Ein kurzer Seitenblick zu den Männern

Wird die Vasektomie, also die männliche Sterilisation, ähnlich moralisch und emotional behandelt? Nein, sagt Martin Teichmann. Er kenne viele Urologen aus seinem Umfeld oder von Fachtagungen. Er wüsste aber von keinem, der Männer unter 30 Jahren nicht behandelt. “Klar, die Vasektomie ist der unkompliziertere Eingriff und lässt sich leichter rückgängig machen.” Doch Teichmann glaubt nicht, dass das der Grund für den unterschiedlichen Umgang von Männern und Frauen ist. Eher sei es Ausdruck dafür, dass Frauen auch im Gesundheitswesen ungleich behandelt werden, dass ihnen nicht die gleiche Selbstbestimmung über den eigenen Körper zugesprochen werde.

“Es ist richtig befreiend zu wissen, dass das Thema abgeschlossen ist”, sagt Anne Ullrich an diesem Sonntag, drei Jahre nach der Sterilisation. Dass Frauen diese Entscheidung erschwert wird, findet sie befremdlich. “Danach hab ich mich oft gefragt, warum ich das nicht früher gemacht habe.”

Sterilisation weltweit: Die Zahlen

Global gesehen ist die weibliche Sterilisation die häufigste Verhütungsmethode. Das zeigt unter anderem eine Metaanalyse aus dem Jahr 2022.Während bei uns etwa acht Prozent der Frauen sterilisiert sind, ist es in Indien jede dritte. Dort wird der Eingriff staatlich gefördert. Andere Verhütungsmethoden sind oft nicht frei zugänglich. Auch in China oder der Karibik ist die Rate hoch, niedrig ist sie in Ländern südlich der Sahara, in Osteuropa und Zentralasien.In Industrienationen gibt es ebenfalls Unterschiede: So lassen sich in Nordamerika deutlich mehr Frauen sterilisieren als in Westeuropa.Sterilisationen waren oft ein Mittel der Unterdrückung – und sind es teilweise bis heute. Beispiel Kanada: Laut des dortigen Ständigen Komitees für Menschenrechte sind Zwangssterilisationen der indigenen Bevölkerung dort trotz des Verbots noch nicht Geschichte.

Heftbox Brigitte Standard

Source: Aktue