Ukraine-Krieg: "Ich konnte nicht aufhören zu weinen"

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In unserer fünfteiligen Serie zum russischen Angriffskrieg kommen fünf Ukrainerinnen zu Wort. Heute: Iryna Nowokreschtschenowa, 54, die tief beeindruckt ist von der Fürsorge, die sie in Deutschland erlebt hat.

Meine Heimat war schon immer berühmt für ihre Wassermelonen. Die Wassermelonen aus Cherson waren immer die süßesten und die größten. Das Durchschnittsgewicht einer Wassermelone lag bei 18 bis 25 Kilo. In der Nähe des Dorfes Ossokoriwka gibt es sogar ein Denkmal für die Wassermelonen mit dem Titel “Geschenke des Gebietes Cherson”. (…)

Und jetzt leben meine geliebte Mutter und mein Bruder im Gebiet Cherson unter Besatzung. Ihnen fehlen Nahrungsmittel, oft haben sie keinen Strom, kein Gas und sehr oft keine Verbindung zur Außenwelt. Manchmal erhalten sie humanitäre Hilfe, oder andere Menschen oder Organisationen unterstützen sie. Wenn es keinen Strom gibt, kocht meine Mutter auf dem Gasherd. Wenn es kein Gas gibt, kocht sie mit dem Elektrobackofen. Wenn es weder Gas noch Strom gibt, muss meine Mutter im Hof auf einem selbst gebauten Ofen aus Ziegeln kochen. Das schmerzt mich sehr, und ich mache mir Sorgen um meine Mutter und meinen Bruder, weil ich sie schon sehr lange nicht erreichen kann.(…) Ich habe mein Land, meine Ukraine, meine Heimatstadt Selenodolsk am 10. März 2022 verlassen. Als die Pässe für unsere Ausreise gestempelt wurden, fingen meine Tochter Dascha und ich an zu weinen. (…)

Ich habe einen Freund in Berlin, Johannes Baur. Er hat uns in der ersten Zeit in Berlin sehr geholfen. Er ist ein sehr freundlicher und warmherziger Mensch. Es gibt keine Worte, um die Freundlichkeit, Gastfreundschaft und Herzlichkeit zu beschreiben, mit der wir von den Freiwilligen in Deutschland empfangen wurden. Sie unterstützten und halfen uns sehr und haben für all die Geflüchteten aus der Ukraine abwechslungsreiche Mahlzeiten beschafft: warmes Essen, leckere Sandwiches, göttlich duftende Brötchen und viele andere Leckereien. Eine solch aufrichtige Freundlichkeit, Wärme und Liebe habe ich schon lange nicht mehr erlebt. Die Deutschen haben mich mit ihrer Fürsorge für die ukrainischen Menschen, die vor dem Krieg geflohen waren, zutiefst beeindruckt. (…)

Später zogen wir zu einer anderen Familie. Auch dort wurden wir gastfreundlich aufgenommen, es war warm und gemütlich. Das Ehepaar und ihre kleine Tochter begegneten uns mit Freundlichkeit und Liebe und halfen uns, unsere Depression, die innere Unruhe, Zweifel, Hoffnungslosigkeit, Ungewissheit und Angst vor der Zukunft zu überwinden. Ich bin ihnen und vor allem auch ihrer kleinen Tochter dankbar, die für uns wie ein Lichtstrahl in der Finsternis war.

Ich möchte Ihnen eine Begebenheit aus meinem Leben in Berlin mitteilen, an die ich mich wahrscheinlich den Rest meines Lebens erinnern werde. An einem warmen Frühlingstag im März gingen meine neue Familie und ich spazieren und kamen auf den Platz vor dem Brandenburger Tor. Ich sah die ukrainische Flagge und hörte ukrainische Lieder, und wir gingen näher heran. Ich war ruhig und fröhlich, aber als ich das Lied – ein Gebet für die Ukraine – hörte, kamen mir die Tränen, und ich konnte nicht aufhören zu weinen. Das Ehepaar, meine Familie, bei der ich lebte, umarmte mich von beiden Seiten, und ihre kleine Tochter wischte mir mit einem Taschentuch die Tränen ab.

Sie ist so klein, sie war noch nicht mal ein Jahr alt. Wie konnte sie meinen Schmerz und mein Leid spüren? Dann beruhigte ich mich ein bisschen, und wir setzten unseren Spaziergang fort, aber meine Gedanken waren schon weit weg von Berlin, in der Ukraine, bei meiner Mutter, meinem Sohn und meinem Mann.

Krieg ist so schrecklich. Krieg bedeutet die Trennung von geliebten Menschen, Verwandten und Freunden auf unbestimmte Zeit. Krieg ist das Schicksal von Menschen, die in der Ewigkeit verloren sind. Krieg ist Einsamkeit, Zweifel und Angst. Krieg ist die Unmöglichkeit, die eigenen Kinder, den Mann, die Eltern zu umarmen. Krieg bedeutet viele Tote und Verwundete. Krieg sind die Tränen von Müttern, Ehefrauen und Kindern. Krieg ist die Linie, die das Leben davor und das Leben danach trennt.

Ich hasse den Krieg. Ich mag keine Menschen, die kämpfen, schießen und andere Menschen töten wollen. Gott hat uns hier auf der Erde geschaffen, um einander zu lieben, um einander zu helfen, um in Freude, Liebe und Gnade zu leben. Ich liebe meine Heimat, die Ukraine, sehr. Ich möchte mit meiner Familie in einer friedlichen, aufblühenden und glücklichen Ukraine leben und ein langes und glückliches Leben führen.

Daria hat einen Job gefunden und Iryna lernt weiterhin Deutsch, während ihr Sohn in Odessa sein Studium abschließt. Ihr Mann ist Ingenieur und arbeitet in einem Kraftwerk. Er lebt nicht weit weg von Saporischschja und damit seit zwei Jahren “im Bombenhagel”, wie Iryna sagt. Ihre Mutter lebt noch, aber ihr Gesundheitszustand verschlechtert sich von Tag zu Tag.

Das Buch

Buchcover
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Aurélie Bros war nach Kriegsbeginn für ein Hilfsprojekt, mit dem ukrainischen Journalist:innen unterstützt werden, in der Ukraine. Sie bat 38 Frauen, in Briefen von ihrem Alltag ohne Frieden und Sicherheit zu erzählen. Fünf davon geben wir in diesem Dossier in gekürzter Form wieder. Die Fotos machten die Ukrainerinnen Daria Biliak, Kristina Parioti und Anastasia Potapova, die nun in Deutschland leben. Aurélie Bros (Hg.): “Wie ein Lichtstrahl in der Finsternis. Briefe von Frauen aus der Ukraine an die freie Welt” (491 S., 30 Euro,Elisabeth Sandmann Verlag)

Heftbox Brigitte Standard

Source: Aktue