Ukraine-Krieg: "Im Krieg haben alle ihr wahres Wesen offenbart"

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In unserer fünfteiligen Serie zum russischen Angriffskrieg kommen fünf Ukrainerinnen zu Wort. Heute: Kristina Parioti, 21, die ohne ihren Freund aus Mariupol fliehen musste – er wurde sofort eingezogen.

Der Krieg hat uns unerwartet überrollt, so wie das ganze Land, aber es gibt einige Städte, die am meisten gelitten haben und in denen man nicht mehr leben kann. Genau ein solcher Ort ist Mariupol geworden. (…)

Da mein Freund schon früher in der Armee gewesen war, musste er sich, als in der Ukraine die Mobilisierung begann, beim Militärkommissariat melden und auf weitere Anweisungen warten. Am 28. Februar sagten sie ihm, dass sie ihn bei Bedarf zurückrufen würden – der Anruf kam noch am selben Tag. An diesem Tag sahen wir ihn zum letzten Mal. (…)

Im Krieg haben alle ihr wahres Wesen offenbart. Manche teilten ihr letztes bisschen Essen, andere versteckten es und aßen es selbst. Und es gab Fälle von Plünderungen. Ich wollte raus aus dieser Hölle, diesem Chaos, diesem Ort, wo auf der Straße Leichen lagen, zwischen ausgebrannten Häusern. Ich betete zu Gott, er möge mir eine Möglichkeit geben, wegzukommen. Ich überredete meine Familie, endlich ihre Sachen zu packen und die Stadt zu Fuß zu verlassen, das war die einzige Möglichkeit.

Während die Stadt unter Beschuss lag, liefen mein Bruder und ich zum letzten Mal nach Hause, wir brachten die Katze in die Wohnung unseres Großvaters, die näher am Keller lag, nahmen das Nötigste mit und packten für den Fußmarsch. Die Nacht vor unserem Aufbruch waren wir sehr aufgeregt, wir wussten nicht, was uns erwartete. Und dann kam der Morgen des 23. März. Wir sammelten unsere Sachen ein, verabschiedeten uns schweren Herzens von Großvater, der uns versicherte, dass er gut allein zurechtkommen würde, ich umarmte die Katze zum letzten Mal, und wir gingen los mit dem, was wir tragen konnten. Auf der Straße, die wir entlangliefen, hörten wir, dass in der nächsten Straße gekämpft wurde, aber es gab kein Zurück mehr. Meine Mutter ging mit Tränen in den Augen, weil sie, um unser Leben zu retten, alles zurücklassen musste, was ihr lieb und teuer war. Auch ihren Vater. (…)

Wir erreichten tatsächlich den Checkpoint, über den wir in das unbesetzte Gebiet der Ukraine gelangten. Wir hatten es an einem Tag von Mariupol nach Berdjanski geschafft, zu Fuß und mit Evakuierungsbussen. Schon am Abend konnte ich mein Handy aufladen und hatte Empfang. (…)

Es stellte sich nun die Frage, wohin wir gehen sollten. Für mich war die Antwort klar: nach Deutschland, aufgrund meines Studiums und meiner Englisch- und Deutschkenntnisse war das naheliegend. Und so beschlossen wir es, wir würden ins Ungewisse reisen, aber dort wären wir in Sicherheit. (…)

Als ich in Deutschland angekommen war, musste ich immer nur an meinen Freund denken. Im Keller in Mariupol hatte ich versucht, nicht an ihn zu denken, um mir keine Sorgen zu machen. Er hatte mir gesagt, das sei das Beste, was ich für ihn tun könne, mir keine Sorgen zu machen. Das habe ich dann auch seinetwillen getan, obwohl es mir sehr schwerfiel. Nach einer Woche in Deutschland, in der ich mich etwas eingelebt hatte, erhörte Gott plötzlich meine Gebete, und mein Freund schrieb mir. Es war die erste Nachricht, die ich seit dem 28. Februar von ihm erhalten hatte. Als er mir ein Foto von seiner Verletzung schickte, wurde mir klar, dass er nur aufgrund dieser Verletzung hatte schreiben können. Das war der Preis, den er zahlen musste, um mir sagen zu können, dass er am Leben war. Als ich erfuhr, dass er in einem Lazarett in Asow-Stahl lag, konnte ich ihm nur schreiben, wie stolz ich auf ihn war, wie sehr ich seinen Mut und seine Tapferkeit bewunderte, wie sehr ich ihn liebte und wie sehr ich ihn vermisste.

Unsere Beziehung war nur noch stärker geworden. Wie nie zuvor wollte ich ihn umarmen und nie wieder loslassen, aber das war unmöglich. In all den Zügen und Bussen, mit jedem Schritt von zu Hause weg hatte ich mich auch von ihm entfernt. Wenn er die Möglichkeit hatte, schrieb er, aber dann lange Zeit wieder nicht mehr. (…) In den Nachrichten hörten wir von den Gräueln, die in Asow-Stahl geschahen, und davon, dass dort jeden Tag Menschen starben, aber ich glaubte und betete weiter. Einmal schickte mir ein Freund ein Video mit der Aufforderung, es bei einer bestimmten Sekunde einzuschalten. Unbewusst spürte ich, dass er dort zu sehen sein würde und dass es sich anfühlen würde, als ob wir uns das letzte Mal begegnen würden. Ich schaltete das Video ein und sah ihn. Mein Herz blutete, weil ich wusste, dass er am Leben war und trotz seiner Verletzungen tapfer durchhielt. Jetzt, wo ich in Sicherheit bin und alles in meiner Macht Stehende tue, um ihm zu helfen, aus der Gefangenschaft zu entkommen und nach Hause zurückzukehren, wird mir bewusst, wie sehr ich ihn liebe. (…)

Diese Geschichte bleibt unvollendet, denn der Krieg ist noch nicht vorbei.Wie viele Leben wird er noch auslöschen und wie viele Städte werden noch zerstört werden, bevor er gestoppt werden kann? Es wird Zeit brauchen, bis dies geschieht und Frieden einkehrt, nicht nur im Universum, sondern auch in unseren Herzen.

Pablo, Kristinas Freund, kämpfte in Asow-Stahl. Dort wurde er von der russischen Armee gefangen und gefoltert. Er kam am 3. November 2022 bei einem Austausch frei. Die beiden haben am 24. April 2023 geheiratet, nachdem er sich im Krankenhaus erholt hatte. Vor einigen Monaten musste er wieder an die Front. Sie konzentrierte sich auf ihr Studium und ihre Karriere als Fotografin in Deutschland, einige Portraits in diesem Dossier hat sie gemacht. Über die Liebe im Krieg sagt sie: “Viele Familien und Paare müssen Trennung, Distanz und die Sorge um einen geliebten Menschen verkraften. Doch gerade in solch extrem schwierigen Lebensumständen zeigt sich unsere Unterstützung, Lebensfreude und Sehnsucht nach Nähe mehr denn je.”

Das Buch

Buchcover
© PR

Aurélie Bros war nach Kriegsbeginn für ein Hilfsprojekt, mit dem ukrainischen Journalist:innen unterstützt werden, in der Ukraine. Sie bat 38 Frauen, in Briefen von ihrem Alltag ohne Frieden und Sicherheit zu erzählen. Fünf davon geben wir in diesem Dossier in gekürzter Form wieder. Die Fotos machten die Ukrainerinnen Daria Biliak, Kristina Parioti und Anastasia Potapova, die nun in Deutschland leben. Aurélie Bros (Hg.): “Wie ein Lichtstrahl in der Finsternis. Briefe von Frauen aus der Ukraine an die freie Welt” (491 S., 30 Euro, Elisabeth Sandmann Verlag)

Heftbox Brigitte Standard

Source: Aktue