Ukraine-Krieg: "Kaffee im Lieblingscafé – das ist Ukraine"

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In unserer fünfteiligen Serie zum russischen Angriffskrieg kommen fünf Ukrainerinnen zu Wort. Heute: Sofija Podkolsina, 25, die ihr Schicksal in dem ihres Vorfahren wiedererkennt.

Mein Urururgroßvater Dewjatschenko war Weber und ein wohlhabender Bauer. Doch 1930 verkündete die Sowjetregierung ihre Politik der “Entkulakisierung”. Vereinfacht ausgedrückt wurden die Bauern gewaltsam ihres Eigentums beraubt. Ihm wurde alles weggenommen, das Land, das ihm gehörte, sein Vieh, seine Pferde, seine Arbeit. Alles ging an den Kolchos. Ich kann mir schwer vorstellen, wie sich ein Mensch fühlt, dem sein Lebenswerk genommen wird, in das er seine Seele gelegt hat und das er seinen Nachkommen übergeben wollte.

Dewjatschenko konnte diesen Schlag nicht verkraften, starb bald darauf und ließ drei Mädchen als Waisen zurück. Ein paar Jahre später wurde die Ukraine von der “Großen Hungersnot” heimgesucht, die von den Sowjets organisiert wurde. Der Holodomor forderte das Leben von Millionen Ukrainern und prägte ihnen für die nächsten Generationen Angst und Gehorsam ein. Das habe ich an den Erzählungen meiner Urgroßmutter gemerkt, die noch siebzig Jahre später Angst hatte, über diese Zeit zu sprechen. Schließlich weiß man nie, wann Russland kommt und einem das Brot wegnimmt. Auch hier drängt sich mir ein Vergleich mit der Gegenwart auf, und ich muss das gestohlene ukrainische Getreide in den besetzten Gebieten erwähnen. Die russische Erpressung mit Hunger. Die Methoden haben sich nicht verändert. (…)

Am 24. Februar wurde ich um halb sechs von einem Anruf meines älteren Bruders geweckt

“Hallo, wieso erreiche ich keinen von euch?!” – “Was ist passiert, ist jemand gestorben, dass du so früh anrufst?” – “Aufwachen, es hat angefangen …”

Während ich diese Worte schreibe, beginne ich wieder zu zittern wie damals. Ich glaube, ich werde mich für den Rest meines Lebens an diese ersten Stunden erinnern, als ich erfuhr, dass ein groß angelegter Krieg begonnen hat. Verwirrung und Angst.

Wir packten unsere Sachen und bereiteten uns auf die Abreise vor. Niemand kannte das Ausmaß, niemand wusste, wie weit die Besatzer vorgedrungen waren. Mein Vater und mein jüngerer Bruder gingen auf Erkundungstour und waren nach einer Stunde zurück. “Das war’s, sie sind schon in der Stadt. Wir haben keine Territorialverteidigung, die ukrainischen Truppen haben sich zurückgezogen, keiner da, der die Stadt verteidigt.”

Mein Vater zog am 26. Februar in den Krieg

(…) Am 27. Februar nahmen die Russen die Stadt ein. Und für mich geschah ein Wunder. Die Einwohner, die ich immer für prorussisch gehalten hatte, gingen unbewaffnet und mit ukrainischen Fahnen auf die Straße und begannen, vor dem russischen Militär die ukrainische Hymne zu singen. Für sie existierte Russland als Verbündeter und Freund nicht mehr. Für einige schon seit Langem, für andere seit den letzten drei Kriegstagen. Sie riefen den Russen zu, dass sie die Ukraine verlassen sollen, und die Besatzer sahen die Menschen nur verwirrt an und verstanden nicht, warum sie nicht froh waren, sie zu sehen.

Die Kundgebungen dauerten einen Monat lang an. Mit der Zeit wurde den Russen klar, dass sie hier keine Unterstützung finden würden, und so begannen sie, ihre üblichen Methoden anzuwenden – Entführungen, Einschüchterung und Gewalt. Trotzdem gingen die Kundgebungen weiter, bis die meisten Menschen die Stadt verlassen hatten und in das von der Regierung kontrollierte Gebiet gegangen waren. (…)

In der Stadt gab es immer weniger Lebensmittel. Ich erinnere mich, dass die Leute in den ersten Tagen des Krieges alles aufkauften und keine neue Ware geliefert wurde. Als Erstes gingen die Medikamente aus. Dann die Grundnahrungsmittel. Die russische Realität rückte immer näher.

Als es die ersten Berichte über Entführungen von Personen des öffentlichen Lebens gab, bestand ich darauf, dass wir weggehen. Mein Vater ist ein bekannter ukrainischer Aktivist in Berdjansk, es war also nur eine Frage der Zeit, bis die Russen zu uns kommen würden.

Die ukrainische Regierung verhandelte mit den Russen über grüne Korridore, über die wir auch fahren wollten. Aber das war natürlich eine Falle. Normalerweise dauert die Fahrt von Berdjansk nach Saporischschja – dorthin fuhren die Menschen aus Berdjansk – zwei Stunden. Wir waren zwei Tage unterwegs.

Als die ukrainischen Behörden einen Korridor für die Zivilbevölkerung aushandelten, richteten die Russen absichtlich an jeder Kreuzung Checkpoints ein. Ein Konvoi von etwa 1000 Fahrzeugen musste alle zehn Kilometer zur Kontrolle anhalten. Männer wurden besonders gründlich durchsucht, einigen wurde die Weiterfahrt untersagt. Mein jüngerer Bruder, der damals 15 war, musste sich immer wieder ausziehen und auf “nationalistische Tätowierungen” überprüfen lassen. Je näher wir dem von der Regierung kontrollierten Gebiet kamen, desto brutaler wurden sie. (…)

Am späten Abend des zweiten Tages erreichten wir das von der Regierung kontrollierte Gebiet. Als ich unsere Flagge am Checkpoint sah, brach ich in Tränen aus. Ich war überwältigt von der Liebe zu diesem Land und hatte das Gefühl, als würde ich zum ersten Mal seit dem 24. Februar wieder atmen. Dieses Gefühl werde ich nie vergessen. (…)

Alles, was wir uns im Laufe des Lebens aufgebaut hatten, ließen wir in der besetzten Stadt zurück. Ich habe meinen Vorfahren Dewjatschenko vorhin nicht ohne Grund erwähnt. 1930 hatten ihm die Sowjets alles weggenommen. 2022, ein paar Tage nachdem wir Berdjansk verlassen hatten, erfuhren wir, dass die Russen in unser Haus gekommen waren. Auch in das Unternehmen meines Bruders und meines Vaters. Fast hundert Jahre später nahmen die Russen meiner Familie wieder alles weg, was sie greifen konnten. (…)

Ich weiß, wie schwer es für diejenigen ist, die dem Krieg entkommen und ins Ausland gegangen sind. Jeden Tag lese ich Berichte darüber, wie sie ihre Heimat vermissen und zurückkommen wollen. Und ich bin unendlich dankbar und stolz darauf, dass die Ukrainer, auch die, die jetzt im Ausland sind, die Ukraine weiterhin auf jede erdenkliche Weise unterstützen, selbst wenn sie unter dem Stress des Krieges leiden. Sie gehen zu Kundgebungen, lassen nicht zu, dass die Welt uns vergisst, und helfen denen, die hiergeblieben sind. Diese Einheit, die ich in bestimmten Momenten unserer Revolutionen gespürt habe, spüre ich jetzt ständig.

Was also ist die Ukraine für mich? Wahrscheinlich das Gleiche wie Deutschland für die Deutschen, Belgien für die Belgier und Finnland für die Finnen. Es sind nicht nur Gesetze und staatliche Institutionen. Es ist das Haus der Eltern, der Kaffee im Lieblingscafé, Gespräche mit Freunden, ein Spaziergang im Park. Es ist die Metro in Kyjiw, am Morgen frisches Brot im Laden, die Staus in der Rushhour und mein geliebtes Asowsches Meer. Wegen der Russen schwimme ich zum ersten Mal in meinem Leben diesen Sommer nicht darin …

Vor allem aber sind es natürlich die Menschen. Die Ukraine – das sind ihre Menschen. Sie erheben sich aus der Asche, finden die Kraft zu kämpfen und arbeiten weiter, trotz all der Schrecken, die das Terrorimperium über unser Land gebracht hat. Für sich selbst und für die Zukunft ihrer Kinder.

Ich habe mich immer für einen glücklichen Menschen gehalten. Und seltsamerweise war es ausgerechnet der Krieg, der mich davon überzeugt hat, dass ich wirklich glücklich bin, unter so unglaublichen Menschen.

Sofijas Vater war an der Front und wurde im Sommer mit 60 Jahren entlassen, ihr großer Bruder wurde nicht mobilisiert, weil er nun vier Kinder hat: Ihre jüngste Nichte wurde im März ein Jahr alt. Ihr kleiner Bruder wurde bisher nicht eingezogen, weil er noch nicht 18 ist. Sofija hat sich vor einem Jahr verliebt, einen Job als Projektmanagerin gefunden und lebt mit ihrem Partner in Kyjiw.

Das Buch

Buchcover
© PR

Aurélie Bros war nach Kriegsbeginn für ein Hilfsprojekt, mit dem ukrainischen Journalist:innen unterstützt werden, in der Ukraine. Sie bat 38 Frauen, in Briefen von ihrem Alltag ohne Frieden und Sicherheit zu erzählen. Fünf davon geben wir in unserer Serie in gekürzter Form wieder. Die Fotos machten die Ukrainerinnen Daria Biliak, Kristina Parioti und Anastasia Potapova, die nun in Deutschland leben. Aurélie Bros (Hg.): “Wie ein Lichtstrahl in der Finsternis. Briefe von Frauen aus der Ukraine an die freie Welt” (491 S., 30 Euro, Elisabeth Sandmann Verlag)

Heftbox Brigitte Standard

Source: Aktue