Vom Therapeuten missbraucht: "Er nannte mich sein Gottesgeschenk"

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Alexandra ist 32 Jahre alt, als sie sich zur Trauerbegleitung in Psychotherapie begibt. Sechs Jahre später führt sie dieser Schritt, nach einem Abstecher zur Polizei, in eine Traumabehandlung: weil der Therapeut, dem sie sich in ihrer Trauer anvertraut hatte, sie und ihr Vertrauen missbrauchte.

“Sollen wir Du sagen? Von mir aus können wir das gerne.” Bisher haben die meisten Menschen dankbar bis erleichtert reagiert, wenn ich ihnen dieses Angebot gemacht habe. Oh ja, verzichten wir bloß auf diesen formellen Quatsch und konzentrieren uns aufs Wesentliche. Eis einmal angebrochen, spricht es sich gleich befreiter. Alexandra wirkt hingegen gestresst. “Ich würde, ehrlich gesagt, lieber beim Sie bleiben, wenn das okay ist”, sagt sie. “Früher wäre ich sofort beim Du mitgegangen. Mittlerweile habe ich damit aber meine Schwierigkeiten.”

Früher, damit meint sie vor ihrer Therapie. Und mittlerweile heißt, seit ihr Therapeut sie missbraucht hat.

So viel zu brüchigem Eis.

“Ich wollte meine Trauer verarbeiten”

Alexandra ist 32, als sie sich in Therapie begibt. Innerhalb weniger Monate hatte sie damals fünf nahe Verwandte verloren, unter anderem ihre Mutter, die mit Anfang 50 kurz nach einer Krebsdiagnose jung und recht plötzlich verstarb. “Ich wollte meine Trauer wirklich verarbeiten und nicht unbeachtet mit mir herumschleppen”, sagt sie. Sie hat zwei Kinder, führt eine harmonische Ehe, die ihr viel bedeutet, hat sich beruflich gerade umorientiert von einem Beamtenjob in eine selbstständige Tätigkeit. Ihr Leben bietet ihr einiges, aber wenig Raum für Trauerarbeit. Deshalb nimmt sie ihn sich. Alexandra ist eine wachsame, pragmatische, selbstreflektierte Frau. “Es war immer meine Art, gut mit mir umzugehen und auf mich aufzupassen”, sagt sie.

Sie beginnt die Behandlung 2017 bei einer Therapeutin. Nach wenigen Sitzungen ist klar: Es passt leider nicht – terminlich. Wenn die Therapeutin Zeit hat, ist es für Alexandra schlecht, und umgekehrt. Die Therapeutin verweist Alexandra an einen Kollegen, der neu in der Stadt ist und sich zunächst die Praxisräume mit ihr teilt. Alexandra sieht keinen Grund, es nicht zu probieren. Zur Kontaktaufnahme bekommt sie seine Handynummer, einen eigenen Festnetzanschluss habe der Kollege noch nicht. Macht ja Sinn. Es kommt zu einem Telefonat, einer Terminvereinbarung, einer ersten Sitzung. “Es hat alles einen leicht chaotischen Eindruck gemacht, aber dadurch wirkte er von Anfang an sehr nahbar und menschlich”, erzählt Alexandra. Terminplanung per Notizzettel, Kontakt per Handy. Unkonventionell. Und sympathisch. In der zweiten Sitzung einigen sich die beiden, einander beim Vornamen zu nennen und das Du zu verwenden. “Ich habe mir nichts dabei gedacht”, sagt Alexandra. Es schien die Dinge zu vereinfachen.

“Er hat sehr viel von sich erzählt”

Alexandra öffnet sich, fasst Vertrauen. Mit der Zeit mehren sich allerdings die eigenartigen Erlebnisse in den Sitzungen, in Alexandra wächst Skepsis. “Er hat sehr private Dinge gefragt, zu meinem Glauben, meiner politischen Einstellung, meinem Sexleben. Und von sich selbst hat er viel erzählt, unter anderem über seine Eheprobleme.” Nach Feierabend lege er sich gerne in die Badewanne im Bad der zu einer Praxis umfunktionierten Wohneinheit. “Es hat sich nicht richtig angefühlt. Ich konnte nur nicht klar zuordnen, woran es liegt.”

Verweis 37°Die Beziehung zwischen Alexandra und ihrem Therapeuten entwickelt sich über das Therapieverhältnis hinaus: Er schreibt ihr Nachrichten am Wochenende, am Abend und in der Nacht, überschüttet sie mit Komplimenten und Zuneigung. “Er nannte mich sein Gottesgeschenk, seine Dualseele und Seelenverwandte”, sagt Alexandra. Obwohl ihre Ehe ihr stets Halt und Heimat geboten hat, trennt sich Alexandra in dieser Zeit auf Drängen des Therapeuten von ihrem Mann. Sie ist ehrlich mit ihm, sagt ihm, dass sie mit ihrem Psychologen zusammen sei. Er macht sich Sorgen um seine Frau, erkennt sie in diesem Verhalten, dieser Entscheidung nicht wieder, doch er respektiert ihren Wunsch und zieht aus. Die beiden bleiben befreundet und verbunden durch ihre gemeinsamen Kinder.

Schließlich kommt es zwischen Alexandra und dem Therapeuten zur körperlichen Grenzüberschreitung: Dem ersten Kuss. Mit ihm beginnt ein sexuelles Verhältnis zwischen den beiden, mit ihm beginnt sich der Missbrauch auf die sexuelle Ebene auszuweiten.

“Ich habe mich nicht wie ich selbst gefühlt”

“Ich habe mich in den Monaten, in denen diese Beziehung lief, nicht wie ich selbst gefühlt”, sagt Alexandra. “Meine Gedanken kreisten ständig um diesen Mann. Allerdings nicht wie bei einer klassischen Verliebtheit, sie haben mich nicht beflügelt oder mir Energie gegeben. Ich konnte mich einfach auf nichts anderes konzentrieren. Ich habe mich ständig gefragt, was er macht und ob es ihm gut geht.”

Alexandra selbst geht es immer schlechter. Sie hat Suizidgedanken, weiß nicht, was mit ihr los ist. “Ich habe versucht, mit meinem Therapeuten darüber zu sprechen, habe ihm gesagt, dass etwas nicht stimmt, dass unsere Beziehung nicht gesund ist”, so Alexandra. “Ich habe ihm vertraut.” Aber die Therapie, die Alexandra einmal bei ihrer Trauerbewältigung helfen sollte, ist zu diesem Zeitpunkt längst ein Abhängigkeitsverhältnis, das sie wie gefangen hält. Als sie sich maximal erschöpft und fremdbestimmt fühlt, trifft sie schließlich die Entscheidung, die Beziehung zu beenden. “Ich habe ihm gesagt, dass ich ihn nicht mehr sehen will, dass ich es nicht mehr kann. Ein paar Tage später hat er mir dann in einer E-Mail geschrieben, er wolle den Kontakt abbrechen. Ich war irritiert, habe aber nicht weiter darüber nachgedacht.” Eine strategische Absicherung, wie sich später der Verdacht nahelegt. Eine Absicherung für den Fall, dass Alexandra ihre Geschichte erzählt.

Es gibt weitere Opfer

Einige Monate nach dem Kontaktabbruch vertraut sich Alexandra einer Bekannten an. Sie fühlt sich nach wie vor schlecht, kann kaum einen klaren Gedanken fassen. War doch etwas dran an diesem Gerede von Seelenverwandtschaft? Sie erhofft sich Hilfe und Rat von der Bekannten, die eine ausgeprägte spirituelle Seite hat. Hilfe bekommt sie. Allerdings anders als erwartet: Wie sich herausstellt, war eine enge Freundin von Alexandras Bekannten ebenfalls bei diesem Therapeuten in Behandlung – und hat das Gleiche erlebt wie Alexandra. “Ich konnte es zuerst gar nicht glauben”, sagt sie. “Aber warum sollte sie mich anlügen?”

Die Bekannte vernetzt die beiden Frauen und es kommt zu einem Treffen. “Sie hat zum Teil genau das erzählt, was ich selbst in meiner Therapie erlebt habe”, sagt Alexandra. “Er hat sie sein Gottesgeschenk genannt, ihr exakt die gleichen Nachrichten geschickt wie mir. Als ich die Geschichte von ihr hörte, konnte ich endlich verstehen und einordnen, was mir passiert war.” Mit der Erkenntnis, dass er sie manipuliert hat, hören Alexandras Gedankenkreise um den Therapeuten mit einem Mal auf. Sie gewinnt ihre mentale Unabhängigkeit zurück, fühlt sich wie erwacht. Für die beiden Frauen ist sofort klar, dass sie den Therapeuten anzeigen werden. Professor Doktor Christian Laue, der als Anwalt viel Erfahrung mit Missbrauchsfällen und insbesondere Missbrauch in der Therapie hat, übernimmt ihren Rechtsbeistand.

Die Anzeige

Anfangs sieht der Jurist Grund zu Optimismus und rechnet seinen Mandantinnen realistische Chancen aus. Die Beweislage ist stark, es gibt zwei Opfer, deren Angaben sich gegenseitig stützen, beide können E-Mails, Nachrichten und sogar Fotos zu Lasten des Beschuldigten vorlegen. Die zuständige Sachbearbeiterin der Polizei zeigt sich engagiert, spricht sogar davon, den Therapeuten wegen Wiederholungsgefahr in Untersuchungshaft zu nehmen – wozu es allerdings nicht kommt. Im Februar 2021 legt der Anwalt die ausgearbeitete Strafanzeige bei der Staatsanwaltschaft vor. Im Sommer fühlen sich beide Opfer bereit, bei der Polizei Aussage zu leisten, die Befragungen dauern jeweils gute vier Stunden. Im November schließt die Polizei die Ermittlungen ab. Nun wird die Staatsanwaltschaft den Fall prüfen und entscheiden, wie sie damit verfährt.

Die Verteidigung des Psychologen wendet eine gängige Strategie an: die sogenannte Täter-Opfer-Umkehr. Die beiden Frauen wollten sich angeblich an dem Beschuldigten rächen, dafür, dass er die Beziehung zu ihnen beendet hätte. Im Sommer 2022 meldet seine Anwältin der Staatsanwaltschaft, ihr Mandant habe einen Suizidversuch unternommen, die Anzeige gegen ihn habe bei ihm eine Angststörung ausgelöst. Bei der Staatsanwaltschaft ist der Fall mittlerweile durch einige Hände gegangen, mehrfach wechselte die zuständige Person.

Im November 2022 fällt schließlich die für Alexandra und ihren Anwalt überraschende wie vernichtende Entscheidung: Obwohl Staatsanwaltschaft und Gericht zu dem Schluss kommen, dass der Therapeut die angezeigte Straftat begangen hat, obwohl sie ihn des Missbrauchs in 15 Fällen für schuldig befinden, wird das Verfahren eingestellt. Nach Paragraf 153 b der Strafprozessordnung: wegen geringer Schuld. Eine Beschwerde oder ein Vorgehen dagegen ist nicht möglich. Christian Laue sieht hier “ein außergewöhnliches Versagen unseres Rechtssystems”, wie er in unserem Gespräch sagt.

Schmerz und Heilung

Für Alexandra hat zu diesem Zeitpunkt bereits eine der dunkelsten Phasen ihres Lebens begonnen, in die sie nach der Entscheidung der Staatsanwaltschaft noch tiefer versinkt. Ihr gesundheitlicher Zustand ist schlecht, ihr Körper reagiert heftig auf die Erlebnisse der vergangenen Monate und Jahre. Schließlich begibt sie sich in eine Therapie zur Traumabewältigung. Durch die findet sie – langsam – wieder zu sich, lernt, ihre Erfahrungen einzuordnen, zu verstehen, damit weiterzuleben. Alexandra kommt sogar wieder mit ihrem Mann zusammen: Ihm scheint es leichter zu fallen, ihr zu verzeihen, als ihr sich selbst.

Bis heute setzt Alexandra vor allem eines schwer zu: dass es niemals eine Gegenüberstellung mit dem Therapeuten gab, keinen Moment, in dem sie ihm aus ihrer Position der Klarheit in die Augen blicken konnte. “Es fühlt sich an, als würde mir etwas fehlen, damit ich mit der Sache abschließen kann”, sagt sie. 

Ich wünsche Ihnen, Sie finden Ihren Abschluss, liebe Alexandra. Vielen Dank für unser Gespräch!

Source: Aktue