Welttag des Stotterns: "Je sinnhafter sich anfühlt, was ich tue, umso unwichtiger wird das Stottern"

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Lene Wichmann, 38, wurde als Schülerin gemobbt, weil sie stottert. Heute zeigt sie Frauen bei Selbstliebe-Fotoshootings, wie wertvoll sie sind.

“Das O-Bein kann nicht sprechen” – diesen Satz eines Mitschülers werde ich nie vergessen. Es war im Physikunterricht. Er saß in der Reihe vor mir und hatte sich zu mir umgedreht. Ich kann mich genau an sein verächtliches Grinsen und seine Stimme  erinnern. Eine Stimme, die keinen Zweifel daran ließ, dass er Freude an dem hatte, was er tat. Das musste ungefähr in der achten Klasse gewesen sein. Ich habe O-Beine und ich stottere. 

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Meine Flucht ins Schweigen

Spätestens auf dem Gymnasium wurde das Stottern zum Problem – als die Sticheleien der Mitschüler fieser, die Mitarbeitsnoten wichtiger und das Stottern dadurch schlimmer wurde. Meine Strategie, den Unterricht zu überleben, war zu schweigen und so zu tun, als wäre ich nicht da. Ich habe mich nicht gemeldet und auch nicht auf Fragen der Lehrer reagiert. Stattdessen starrte ich auf mein Blatt  und hoffte, dass mich niemand anspricht. Besonders deprimierend war es, wenn ich die Antwort wusste. Ich blieb lieber stumm und kassierte eine Fünf in Mitarbeit, denn solange ich nicht sprach, konnte sich niemand über mich lustig machen. Was hätte ich dafür gegeben, unsichtbar zu sein. 

Ich beendete die Schulzeit früher

Gefühlt liegt meine Schulzeit unter einem Nebelschleier. Klare Erinnerungen habe ich erst ab dem Moment, als ich in der zehnten Klasse entschied, abzugehen und kein Abitur zu machen. Es war ein Befreiungsschlag. Ich fühlte mich, als hätte ich das Zepter selbst in der Hand. Zum ersten Mal war ich stolz auf mich – stolz, so mutig zu sein, diese Entscheidung getroffen zu haben. Außerdem fand ich es ziemlich cool, für meine Ausbildung zur Fotodesignerin mit 16 von zu Hause auszuziehen. Das gab mir Selbstvertrauen. 

Mein Ziel: Fotografin werden

Wie genau ich darauf gekommen war, weiß ich nicht mehr, denn ich hatte noch nie eine Kamera in der Hand gehalten. Doch das Ergebnis meines Berufstests im Berufsinformationszentrum (BIZ) hatte mich in meiner Wahl bestärkt: Auf Platz 1 stand Fotografin. Für den Sommer vor meinem zehnten und letzten Schuljahr organisierte ich mir ein Praktikum bei einem Fotografen. Dafür musste ich ihn anrufen – der Horror für mich. Ich kann mich noch sehr genau an das Telefonat erinnern: Mein Herz raste, meine Hände zitterten, ich war verkrampft und bekam kaum ein Wort heraus. Aber ich wollte es unbedingt, also boxte ich mich durch und wurde schließlich für meinen Mut belohnt: Ich bekam den Praktikumsplatz und begann ein Jahr später meine Ausbildung.

Ein neues Kapitel beginnt

Mit meiner Ausbildung zur Fotodesignerin begann ein völlig neues Kapitel für mich. Endlich fühlte ich mich zugehörig, auch wenn mich das Stottern immer wieder vor Herausforderungen stellte: beim Bestellen von Croissants beim Bäcker, beim reihum Vorlesen in der Klasse, bei Telefonaten, beim Leute kennenlernen, beim nach dem Weg fragen, beim Daten. Das meiste davon vermied ich, wenn möglich: ließ andere für mich im Restaurant bestellen, schlich mich aufs Klo, kurz bevor ich mit Vorlesen dran war, zog mich zurück, um keine neuen Leute kennenlernen und mich vorstellen zu müssen.

Das Schlimmste: Der Moment, wenn‘s jemand merkt

Am schlimmsten war immer der Moment, in dem der oder die andere “es” merken würde. Davor hatte ich am meisten Angst. Wie würde er oder sie reagieren? Besonders freundlich lächeln, verständnisvoll nicken, die Stirn in Falten legen, verlegen lachen, fragen, ob ich meinen Namen vergessen habe, am Telefon einfach auflegen, sich erschrocken erkundigen, ob man mir helfen kann, mir das Wort aus dem Mund nehmen oder mich verwirrt stehen lassen – ich habe alles erlebt. Und das war oft viel schlimmer als das Stottern selbst. 

Doch unter den Schichten aus Scham, Angst und Zweifeln bewahrte ich mir immer meinen Kampfgeist. Schon mit 12 oder 13 hatte ich meine Mutter gefragt, ob das denn jetzt immer so weitergehen würde, dass jeden Tag, für den Rest meines Lebens, das Gleiche passiert – früh aufstehen, zur Schule oder zur Arbeit gehen, essen, schlafen und vor allem: mir von anderen sagen lassen, was ich zu tun habe. Meine Mutter antwortete: “Ja, das ist so. Es sei denn, du tust etwas dafür, dass es anders kommt.” Da fasste ich den Entschluss, es anders machen zu wollen. Ich wusste noch nicht wie, aber diese Vorstellung sollte mich antreiben – trotz oder vielleicht gerade wegen des Stotterns.

Aus Karo wird Lene

Nach meiner Ausbildung war ich bereit, die Welt zu erobern. Nur wartete da draußen niemand auf mich. Ich war schüchtern und stotterte. Vorstellungsgespräche waren der Horror und einen Job in der Fotobranche zu bekommen, war aussichtslos. So kehrte ich der Fotografie den Rücken, machte Praktika, ein Fachabi und noch eine Ausbildung, bis ich durch eine Hochzeit von Freunden zur Fotografie zurückfand. 

2016 machte ich mich als Hochzeitsfotografin selbständig. Schon zuvor hatte ich meinen Vornamen geändert – aus Karo war Lene geworden. Das konnte ich besser aussprechen. Ich freute mich darauf, neue Leute kennenzulernen, ohne sie als erstes anzustottern. Und ich hörte auf, mir Sorgen darüber zu machen, dass ich mich vorstellen muss.  

Salsa, Breathwork, Kuschelabende

Meine große Leidenschaft war zu dieser Zeit das Salsa tanzen. Dabei konnte ich alles vergessen. Und nicht nur das: Ich begegnete Menschen, die mir eine neue Welt eröffneten. Nach einem Tanz fragte mich mein Tanzpartner: “Bist du ein spiritueller Mensch?”, und es dauerte nicht lange, bis ich meinen ersten Tantra-Abend erlebte. Ein Jahr später, bei einem Tantra-Abend in Thailand, kam mir der Gedanke: Könnte ich Fotografie und Tantra vielleicht verbinden?  

Auf meiner eigenen Selbstliebe-Reise entdeckte ich Breathwork-Sessions, Mantra-Singen, Kuschelabende, Women Circle und Kakaozeremonien. Dabei ging es immer darum, in Verbindung zu gehen – mit mir selbst und anderen. Sich ehrlich zu zeigen, mit allen Gefühlen, die da sind und erleben zu dürfen, damit angenommen zu sein. Endlich traute ich mich, Raum für mich zu beanspruchen und mir das Stottern mehr und mehr zu erlauben. 

Selbstliebe und Fotografie verweben sich

Ich begann meine Erfahrungen aus der Körperarbeit in meine Arbeit als Fotografin einfließen zu lassen und Paare während ihrer intimsten Momente mit der Kamera zu begleiten. Dabei stellte ich fest, dass ich etwas mache, das ich mir selbst immer gewünscht hatte: Ich gebe Menschen Raum, so sein zu dürfen, wie sie sind. Davon fasziniert, verabschiedete ich mich von der Hochzeitsfotografie, widmete mich intimen Paarshootings und entwickelte Selbstliebe-Shootings für Frauen.  

Leben zwischen Scham und Stolz

Auch heute noch gibt es Momente, in denen ich mich für mein Stottern schäme, zum Beispiel beim Daten. Es hört sich einfach nicht gut an und sieht auch nicht schön aus. Wenn ich wählen könnte, wäre ich es gerne los. Aber ich übe mich darin, es darauf ankommen zu lassen, dass die Leute es merken und über der Reaktion zu stehen. Manchmal sage ich auch ganz direkt: “Ich stottere, manchmal dauert‘s ein bisschen”.

Ich bin stolz, dass ich meinen Weg gegangen bin. Mit jedem Schritt wuchs das Vertrauen in mich selbst. Ich habe Entscheidungen getroffen, mit denen ich mich mutig und sicher fühlte. Heute bin ich zufrieden damit, wer und wie ich bin. Ich mag mein Leben. Denn je sinnhafter sich anfühlt, was ich tue, desto unwichtiger wird das Stottern.

Es geht weiter: Eure Stimme is… Leserkolumne (1198255)

Die Autorin: Lene Wichmann verbindet in ihren “Selbstliebe-Shootings” Körperarbeit, Wohlfühl-Rituale und Fotokunst. Zu ihr kommen Frauen in Lebenskrisen und Momenten der Veränderung: Das Fotoshooting und die Bilder zeigen ihnen, wie schön und wertvoll sie sind – und helfen ihnen dabei, einen neuen, glücklicheren Lebensabschnitt zu beginnen (www.intimatestatements.com).

 

Source: Aktue