Kitastrophe: "Wann zündet ihr endlich Kackwindeln vor dem Bundestag an!?"

Aktuel

Die Pandemie ist vorbei, die “Notbetreuung” aber geblieben: Millionen Frauen können nicht erwerbsarbeiten, weil sie sich um ihre Kinder kümmern, und die männlich dominierte Wirtschaft ignoriert es. BRIGITTE-Redakteurin Alexandra Zykunov macht das alles nur noch wütend.

Alexandra Zykunov
Alexandra Zykunov ist fassungslos, dass Politik und Wirtschaft nicht verstehen, was Kita-Krise auch bedeutet: Fachkräfte müssen zu Hause Lego spielen, statt Patient:innen zu pflegen oder Wärmepumpen einzubauen.
© Andreas Sibler

“Die Politik scheißt auf Mütter. Die Politik scheißt auf Frauen.” Es waren diese Worte, die ich vor dreieinhalb Jahren in meinen Laptop hämmerte. Wutentbrannt, weil sich mitten in der Pandemie Politik und Wirtschaft lieber darüber stritten, wie man endlich Fußballstadien öffnen kann oder Autohäuser, während Kitas und Schulen noch monatelang im Notbetrieb weiterlaufen würden. Ich regte mich darüber auf, wie wenig man Kinder, Eltern und Mütter politisch mitdenken kann, und fragte mich, wann Mütter endlich eine Wagenladung Kackwindeln vor dem Bundestag anzünden würden, wohlwissend, dass sie noch nicht mal mehr dafür Kraft hatten.

Notbetreuung ist längst Normalität

Heute würde niemand mehr auf die Idee kommen, Autohäuser oder – Gott bewahre! – Fußballstadien dichtzumachen. Nur hängt genau jetzt, während ich diese Zeilen in meinen Laptop hämmere, in der Kita bei uns im Haus ein gelbes Blatt an der Eingangstür, auf dem groß der Schriftzug “Notbetreuung” steht. Mal wieder. Zum x-ten Mal.Und es ist kein Einzelfall.

Uns fehlen aktuell 430 000 Kindergartenplätze. Die Hälfte der Kitaleitungen musste ihre Betreuungszeiten kürzen, da auch 100 000 Erzieher:innen fehlen, bis 2030 werden es 200 000 sein. Sie haben Corona, Burnout, Rücken, Hand-Mund-Fuß – oder sie müssen ihre Kitas dichtmachen und sich selbst anzeigen, weil sie vor besinnungsloser Überarbeitung anfangen, Kinder zu schlagen. 

Das Recherchenetzwerk “Correctiv” hat gerade in einem Bericht ans Licht gebracht, was wir alle hätten geahnt haben müssen: Von 2000 Kita-Mitarbeitenden sagt die Hälfte, dass sie die Kinder nur noch verwahren. Sie berichten von Tagen, an denen Kolleg:innen allein auf 30 Kinder (!) aufpassen, an denen sie nicht auf Toilette gehen können, an denen sie ohnmächtig werden. Und sie erzählen von Tagen, an denen sie so fertig sind, dass sie Kinder anbrüllen, wegsperren oder ohrfeigen.

Fachkräftemangel!? Schuld ist die Betreuungslücke

Wie können wir das alle kollektiv zulassen?! Was für ein brutales und zutiefst menschenverachtendes Armutszeugnis ist das bitte für die drittgrößte Wirtschaftskraft der Welt?! Wie sehr kann man nicht nur auf Mütter scheißen, sondern offenbar auch auf Kinder und damit auf die Zukunft des eigenen Landes?!

Dass die Politik hier nur auf den eigenen Machterhalt schielt, ist dabei fast schon logisch. Schließlich sind mehr als die Hälfte der Wählerschaft in Deutschland über 50 und haben mit Notbetreuungen nicht mehr viel am Hut. 

Aber wo zur Hölle ist denn die Wirtschaft? Hat sie es etwa immer noch nicht verstanden, dass eine katastrophale Kinderbetreuung – die Kitastrophe, wie der “Spiegel” sie neulich nannte – jetzt schon fatale Folgen für den Wohlstand unseres Landes hat? Und dass die vielen Hunderttausend Fachkräfte, die wir brauchen, längst da sind? Sie sitzen nur in Castrop-Rauxel, Pforzheim und Köln-Deutz und spielen Backe-backe-Kuchen, statt Wärmepumpen zu installieren oder Patient:innen zu pflegen. Selbst die dringend gebrauchten Erzieher:innen können keine Kinder betreuen, weil – oh Überraschung – ihre eigenen Kinder ja auch nicht betreut sind! Fast 30 Prozent der Arbeitnehmer:innen gaben bei einer Umfrage der Hans-Böckler-Stiftung an, dass sie schon mal wegen Betreuungslücken ihre Stunden reduzieren mussten. Das ist beinah jede dritte Arbeitskraft!

Wie viele Zahlen und Prognosen brauchen Wirtschaft und Politik denn noch, um das Ausmaß der Kitastrophe endlich zu verstehen? Hätten Kitas mehr Erzieher:innen, würde das Einkommen von Frauen Berechnungen zufolge im Schnitt um 290 Euro monatlich ansteigen, bei Akademiker:innen um 425 Euro, was Wirtschaftswachstum und mehr Steuereinnahmen bedeutet. Würde man alle Frauen mit Kindern unter sechs Jahren so viele Stunden im Job arbeiten lassen, wie sie gern würden, hätten wir mit einem Schlag 840 000 Arbeitskräfte mehr und würden damit den aktuellen Fachkräftemangel von 1,7 Millionen unbesetzten Stellen mal eben halbieren. Das muss man sich mal vorstellen: Die Hälfte aller fehlenden Fachkräfte wird nicht angezapft, weil unser Land es immer noch nicht zu verstehen scheint, dass Kita- und Pflegekrise unmittelbar mit dem Fachkräftemangel und somit mit dem Wirtschaftswachstum im eigenen Land zusammenhängt!

Männer, ihr seid jetzt gefragt! 

Wenn Politik und Wirtschaft schon auf das Wohl von Kindern und Müttern scheißen, auf das Wohl der Männer aber offenbar noch nicht! Auf die, die in den Chefetagen in der Überzahl sitzen und all diese Zahlen doch kennen müssten. Und so frage ich mich:Wo sind die eigentlich? Die Entscheider, die hochbezahlten Väter, die ja jetzt auch immer mehr zu Hause bleiben müssen? Die Chefs, die sehen, dass nicht nur Mütter, sondern nun auch Väter ausfallen?! Haben sie immer noch nicht verstanden, dass wir aus dieser Misere nur herauskommen, wenn nicht nur Millionen Mütter wüten, Petitionen starten und Brandreden halten, sondern sich auch endlich die Millionen Väter für die Kitastrophe in unserem Land mitverantwortlich fühlen?! Wenn auch sie sich darüber aufregen, warum es nicht längst Boni für Kita-Mitarbeitende gibt, warum zig Erzieher:innenausbildungen nicht bezahlt werden und warum zur Hölle die dringend benötigten Azubis auch noch selbst Schulgeld zahlen müssen?!

Wo seid ihr, Männer? Väter? Entscheider? Wo sind eure Shitstorms und Leitartikel? Wann droht ihr mit einem unbegrenzten Elternstreik und wann zündet ihr Kackwindeln vor dem Bundestag an?! Es sind auch eure Kinder!!! Es wird, verdammt noch mal, Zeit.

Heftbox Brigitte Standard

Source: Aktue