Psychologie: Warum Scham nicht so schlecht ist wie ihr Ruf

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Wir lesen in letzter Zeit viele Aufrufe, uns von unserer Scham zu befreien. Aber vielleicht gehen wir das Gefühl nur falsch an. Ein Plädoyer dafür, unserer Scham Raum zu geben – in Maßen.

Scham kann uns das Leben ganz schön schwer machen. Sie kann dafür sorgen, dass wir Chancen verstreichen lassen, dass wir unsere Bedürfnisse nicht ausreichend kommunizieren, dass wir mit unserem Selbstwert hadern oder sogar dafür, dass wir Termine bei einer Ärztin oder einem Therapeuten nicht machen, obwohl sie wichtig für unsere Gesundheit wären.

Es kann also durchaus helfen, wenn wir uns mit unserer Scham auseinandersetzen. Im Umgang damit gibt es aber ein Missverständnis, dem wir häufig zum Opfer fallen: dass wir das Gefühl am besten vermeiden sollten.

Das Vermeiden unangenehmer Gefühle bringt uns nämlich nicht wirklich weiter. Wir verdrängen sie, lassen sie nicht zu – und glauben dann, dass sie uns auch nicht beeinflussen. So einfach ist es aber leider nicht, denn nur weil wir möchten, dass etwas nicht da ist, können wir es dadurch nicht in Luft auflösen.

“Löst euch von eurer Scham!”

Auf Social Media und auch in den klassischen Medien lesen und hören wir aktuell häufig, dass wir unserer Scham den Kampf ansagen und uns von ihr lösen sollen. Grundsätzlich ist das natürlich eine gute Sache, vor allem, wenn unsere Scham einen großen Leidensdruck erzeugt und uns im schlimmsten Fall davon abhält, zufrieden und selbstbewusst durchs Leben zu gehen. Dabei gilt es aber, zwei verschiedene Szenarien zu unterscheiden.

Das sieht auch der Psychologe Dr. Dylan Selterman so und erklärt auf “Psychology Today” dazu: “Wenn Menschen Scham als Antwort auf ihr schlechtes Verhalten fühlen und sie das motiviert, an sich zu arbeiten, dann ist Scham etwas Gutes. Aber wenn Menschen sich die ganze Zeit in allen möglichen Situationen schämen, und das unabhängig von ihrem Verhalten, dann wird Scham selbstzerstörerisch.”

Außerdem könne Scham auch problematisch werden, wenn wir übermäßig verallgemeinern, so der Experte von der renommierten Johns Hopkins University im US-Bundesstaat Maryland weiter. “Wenn wir finden, dass wir einen Aspekt unserer Persönlichkeit verbessern könnten, etwa unsere Pünktlichkeit, ist das vernünftig und etwas ganz anderes, als zu finden, dass wir insgesamt eine schlechte Person sind.” Denn ein solches Ausmaß von Scham kann großen Schaden anrichten. Uns davon abhalten, für uns einzustehen und liebevoll mit uns selbst umzugehen.

Nicht die Scham selbst ist das Problem, sondern unser Umgang damit

Es geht also nicht darum, dass Scham an sich ein schlechtes Gefühl ist, dass es abzuschaffen gilt, sondern eher um einen gesunden Umgang damit. Und vor allem darum, unterscheiden zu lernen, ob es sich um angebrachte Scham für Fehlverhalten handelt oder um die selbstzerstörerische Variante, die uns das Leben unnötig schwer macht.

Scham an sich ist erst mal nur ein Gefühl, es ist weder gut noch schlecht, sondern teilt uns einfach etwas mit. Wenn wir durch ein Gefühl der Beschämung dazu motiviert werden, beim nächsten Mal etwas anders zu machen, sodass unser Verhalten mehr unseren Werten entspricht, ist das ja nichts Schlechtes. Es wird nur dann schwierig, wenn wir, wie Dr. Selterman beschreibt, Scham für uns ganzes Wesen und Sein empfinden.

Lernen, der Scham Raum zu geben

Anstatt also negative Gefühle wie Scham – aber auch Wut und Angst – pauschal zu verteufeln, könnten wir sie uns eher einmal genauer anschauen und überlegen, was wir daraus lernen können. Wir können der Emotion Raum geben, ohne uns in ihr zu verlieren. Wenn wir dann das Gefühl haben, dass wir ein Problem mit genereller Scham haben, kann es sich natürlich lohnen, daran zu arbeiten, zum Beispiel im Rahmen einer Psychotherapie.

Aber in vielen Fällen muss Scham nicht der Staatsfeind Nummer eins sein, zu dem wir das Gefühl häufig machen. Wenn es uns gelingt, sie erst mal nur als Indikator dafür zu sehen, ob unser Leben und unser Handeln unseren persönlichen Werten und Vorstellungen entsprechen, dann kann sie uns sogar nützen. Denn wie bei vielem im Leben macht auch bei Scham die Dosis das Gift.

Source: Aktue