Psychologie: Was langsam denkende Menschen schnell denkenden voraushaben

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Langsam denkende Personen brauchen manchmal ein wenig länger als ihre schnellgeistigen Mitmenschen. Das heißt aber nicht, dass sie ihnen unterlegen sind.

Bevor wir uns langsam und schnell denkenden Menschen widmen, starten wir einmal mit vier Fragen, die sicherlich die meisten von uns mit Leichtigkeit beantworten können.

  1. Wenn du an einem Rennen teilnimmst und die Person überholst, die an zweiter Stelle ist, auf welchem Platz bist du dann?
  2. Ein Schäfer hatte 15 Schafe, doch alle außer acht starben. Wie viele hat er jetzt noch?
  3. Emilys Vater hat drei Töchter. Die ersten beiden heißen April und May, wie heißt die dritte Tochter?
  4. Wie viele Kubikmeter Erde sind in einem Loch, das drei Meter tief, drei Meter breit und drei Meter lang ist?

So. Und nun zu den langsam und schnell denkenden Menschen.

Es gibt eine Anekdote über Albert Einstein, von der es heißt, dass sie ihn gut beschreibt, auch wenn wir nicht mit Sicherheit wissen, ob sie hundertprozentig wahr ist: Ein Handwerker soll bei ihm zu Hause gewesen sein, um etwas zu reparieren. Als er Albert Einsteins Bibliothek sah – Bücher über Bücher über Bücher –, soll er zutiefst beeindruckt gewesen sein und die Vermutung geäußert haben, dass der Physiker sicherlich sehr lange gebraucht habe, um sie alle zu lesen. Daraufhin soll Albert Einstein geantwortet haben, dass er die meisten dieser Bücher nicht einmal geöffnet habe. “Ich lese sehr langsam”, soll er gesagt haben. “Wenn ich etwas lese, will ich sichergehen, dass ich es vollkommen verstehe. Also wähle ich immer nur einen Absatz aus, lese ihn, schließe das Buch und denke dann eine Woche lang darüber nach, bevor ich das Buch wieder öffne und mit dem nächsten Absatz weitermache.”

Sollte diese Geschichte, ob wahr oder nicht, Albert Einstein tatsächlich treffend charakterisieren, können wir ihr entnehmen, dass er ein eher langsam denkender Mensch war. 

Was langsames von schnellem Denken unterscheidet

Bei langsam denkenden Menschen werfen neue Informationen und Erfahrungen typischerweise zunächst einmal Fragen auf. Oder stoßen Denkprozesse an. Sie betrachten ihre Eindrücke aus unterschiedlichen Perspektiven, probieren verschiedene Interpretationen aus, setzen sie in Bezug zu anderen Informationen, die bereits in ihrem Gehirn gespeichert sind. Und so weiter. Das kann ziemlich viel Zeit in Anspruch nehmen. 

Schnell denkende Menschen wählen eine andere Strategie. Sie können neue Informationen und Erfahrungen routiniert und im Handumdrehen einordnen, ohne allzu viele Fragen stellen zu müssen. Dabei nutzen sie vor allem ihre Intuition, die sich maßgeblich aus ihren Erfahrungsmustern, Gewohnheiten und Instinkten speist. Diese Vorgehensweise nimmt in der Regel deutlich weniger Zeit in Anspruch als der langsame Denkansatz.

Der Nobelpreisträger Daniel Kahnemann bezeichnet diese beiden Strategien als zwei unterschiedliche kognitive Systeme, in denen sich unser Denken abspielen kann: Das eine System, das langsame Denken, involviert ein eher analytisches, reflektierendes Vorgehen, wohingegen das andere System, das schnelle Denken, auf einem intuitiven, impulsiven Ansatz beruht.

Die Vorteile des schnellen Denkens liegen auf der Hand: Es spart Zeit und kostet verhältnismäßig wenig Energie. Mithilfe dieses Denkstils können wir die Welt um uns herum rasch ordnen, Dinge abhaken und mit einem guten Gefühl ins Bett gehen. Langsames Denken führt hingegen dazu, dass wir in Diskussionen oft den Kürzeren ziehen, offene Fragen mit uns herumschleppen und verhältnismäßig viel mentale Energie brauchen, um in unserem Kopf Ordnung zu schaffen beziehungsweise zu halten. Doch das langsame Denken hat auch Vorteile, zum Beispiel die folgenden.

3 Dinge, die langsam denkende Menschen schnell denkenden voraushaben

1. Langsam denkende Menschen nehmen (Vor-)Urteile nicht so leicht an

Für schnell denkende Menschen sind viele Dinge in Nullkommanix klar: Impfgegner:innen sind asozial und dumm, eine Person ist entweder Mann oder Frau, das Wichtigste im Leben ist, den:die Eine:n zu finden. Auf diese Weise nehmen sie manchmal jedoch, ohne es zu merken, lediglich eine fremde oder die öffentliche Meinung an, anstatt sich selbst eine zu bilden. Langsam denkenden Menschen passiert so etwas in der Regel seltener, da sie sich mehr Zeit geben, um sich ein Urteil zu bilden, und sich dabei intensiver mit den Dingen auseinandersetzen.

2. Langsam denkende Menschen führen oft tiefere und diversere Beziehungen

Langsam denkende Menschen mögen sich manchmal in der Außenseiterrolle wiederfinden, dafür knüpfen sie meist umso tiefere und zuverlässigere Verbindungen und haben diversere Freundeskreise. Üblicherweise sind sie offen für unterschiedliche Menschentypen, während schnell denkende Personen lieber bei einem gewohnten Schema bleiben, das ihrem eigenen ähnelt. Außerdem bemühen sich langsam denkende Menschen, andere wirklich zu verstehen und sich ein umfassendes Bild von einer Person zu machen, was tiefe Beziehungen begünstigen kann.

3. Langsam denkende Menschen erleben oft eine vielfältigere Welt

Langsam denkenden Menschen erscheint die Welt in der Regel komplexer und bunter als schnell denkenden. Während langsam denkende Personen etwa nach Zusammenhängen und Besonderheiten von Dingen suchen, ordnen schnell denkende neue Erfahrungen und Wahrnehmungen am liebsten in bekannte Kategorien ein, wodurch sie weniger empfänglich für Details und Veränderungen sind.

Langsames oder schnelles Denken – was ist besser?

Langsames und schnelles Denken stehen nicht unbedingt in Konkurrenz zueinander, sondern ergänzen sich, und in den meisten Personen stecken sowohl ein langsam denkender als auch ein schnell denkender Mensch, sogar in Albert Einstein. Tatsächlich verfügen wir üblicherweise über die Fähigkeit, beide Denkstrategien anzuwenden und tatsächlich brauchen wir sie beide. In manchen Situationen ist es nun einmal sinnvoller, schnell zu denken, intuitiv zu urteilen und zu entscheiden und Details auszublenden, andere rechtfertigen eine ausführlichere Auseinandersetzung und es ist klug, dass wir uns Zeit nehmen zu überlegen und Fragen zu stellen.

Nichtsdestotrotz neigen manche Menschen eher zu schnellem Denken und andere zu langsamem – beides hat Vor- und Nachteile, mit beidem können wir es über- wie untertreiben, beides ist mal angebracht und mal unangebracht. Wer wissen möchte, zu welcher Strategie er:sie selbst möglicherweise mehr tendiert, erinnert sich vielleicht an die Fragen, die wir uns am Anfang gestellt haben. Sie stammen aus einer überarbeiteten Version von Thompson und Oppenheimers “Cognitive Reflection Test” und veranlassen die meisten Menschen entweder dazu, die typische Antwort für schnelles Denken zu geben oder die Antwort eines langsam denkenden Menschen:

  • Frage 1:
    Schnell denkend: auf dem ersten Platz;
    langsam denkend: auf dem zweiten
  • Frage 2:
    Schnell denkend: sieben;
    langsam denkend: acht
  • Frage 3:
    Schnell denkend: June;
    langsam denkend: Emily
  • Frage 4:
    Schnell denkend: 27;
    langsam denkend: 0

Wer mehrheitlich auf die erstgenannte Antwortvariante gekommen ist, scheint eher dem intuitiven Denkstil zugeneigt zu sein, wer bei Antwortvariante zwei landete, womöglich auch noch schnell, ist offenbar eher gewohnt, gründlich zu überlegen. Beides ist okay, solange wir die jeweils andere Strategie nicht verlernen. Denn alles einfach anzunehmen und unreflektiert in unser mentales Schubladensystem einzusortieren, ohne darüber nachzudenken, lässt vieles auf der Strecke. Alles ewig zu durchdenken, lässt uns wiederum mit jeder Menge un- oder lediglich angelesenen Büchern zurück. Für Albert Einstein mag Letzteres okay gewesen sein. Doch wenn es ums Denken geht, ist es unter Umständen unangemessen, sich an ihm zu orientieren.

Verwendete Quellen: psychologytoday.com, Kevin Dutton: “Black and White Thinking: The burden of a binary brain in a complex world”

Source: Aktue