Von der Nachteule zur Lerche: Wie wird man so zur Frühaufsteherin?

Von der Nachteule zur Lerche: Wie wird man so zur Frühaufsteherin?

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Unsere Autorin ist eine aufgeweckte Frau. Spätestens seit ihr Wecker täglich um 5 Uhr klingelt. Kann eine praktizierende Nachteule zur Morgenlerche werden? Augen auf – und durch!

Es ist zwei Uhr siebenunddreißig, und ich bin hellwach. Das ist ungewöhnlich. Sonst drehe ich mich einfach zufrieden grunzend um, wenn ich nachts aufwache, und freue mich, dass ich gleich darauf noch einmal einschlafen darf. Es sei denn, ich muss vor halb sieben raus, zum Beispiel zum Zug oder Flug. Dann wälze ich mich unentspannt hin und her, aus Angst zu verschlafen und damit den Supersparpreis in den Sand zu setzen.

Heute ist eine dieser nervösen Nächte, denn in nur zwei Stunden und 23 Minuten beginnt der erste Tag meines vermutlich neuen Lebens. Saufrüh also, denn das gehört ab jetzt zum Konzept. In seinem Bestseller “Der Fünf-Uhr-Club” behauptet der US-amerikanische Personal Trainer Robin Sharma: “Gestalte deinen Morgen, und in deinem Leben wird alles möglich.” Klingt vielversprechend. Wie das gehen soll und was sich so saufrüh alles machen lässt, dazu spuckt das Internet Vorschläge aus wie ein wahnsinnig gewordener Spielautomat Kleingeld. Hashtag morgenroutine, Hashtag thatgirl: Work-out, Zitronenwasser, Zeitung lesen (oder Weltliteratur), meditieren, Journaling, sprich: Tagebuchschreiben (mit der Hand! Wegen besserer Verknüpfung der Gehirnhälften!), chinesische Vokabeln lernen, die drei wichtigsten Tagesziele auf Post-its notieren. So machen es – angeblich – Gewinnertypen wie Elon Musk, Oprah Winfrey und Gwyneth Paltrow. Was die können, das kann ich auch: Ab heute werde ich von der verpennten Eule zur energiegeladenen Lerche. Frisch, tatkräftig, erfolgreich und steinreich wahrscheinlich auch.

Habe ich mir so gedacht. Stattdessen liege ich steif wie ein Brett im Bett und habe Angst, zu verschlafen, trotz Wecker. Oprah Winfrey, Stammgast im Fünf-Uhr-Club, behauptet, sie hätte nicht einmal einen Wecker. Streberin! Vielleicht starrt sie auch einfach die ganze Nacht die Uhrzeit auf dem Handy an, so wie ich? Nach zwei schlaflosen Stunden, um 4:55 Uhr, stehe ich jedenfalls auf. Ist gar nicht so schlimm, denke ich, eigentlich fühle ich mich ziemlich fit. Kein Wunder, wahrscheinlich habe ich gerade vor Nervosität einen Adrenalinspiegel wie die Fußballerin Alexandra Popp bei ihrem Tor im EM-Halbfinale gegen Frankreich.

Der frühe Vogel hat es nicht leicht

Ich reisse die Balkontür auf und atme achtsam die kühle frische Luft ein. Das ist nämlich so eine Anfängerübung: bewusst den Boden unter den Füßen spüren, bewusst die Lunge füllen, bewusst loslassen und so weiter. Ich muss ja nicht gleich am ersten Tag mit dem Lauftraining beginnen. Draußen im Dunkeln sehe ich verwaiste Straßen, einen Kirchturm hinter Bäumen. Eine Bühne für ein Theaterstück ohne Schauspieler. Ein interessanter Gedanke. Den muss ich gleich fortspinnen, noch vor der ersten Mandarinlektion und der “New York Times“-App, die ich mir für meine internationale Presselektüre runtergeladen habe. Denken ist ja fast wie meditieren. Warum also nicht auf das Sofa wechseln, in eine bequeme Position?

Als ich wieder aufwache, sind gut vier Stunden vergangen. Hashtag megafail. Wenigstens ist heute Samstag, und ich habe sonst nicht mehr viel vor.

Ich kenne das Morgenland, ich war früher schon mal da. Mit Mitte 20 stolperte ich gelegentlich samstags nach Clubnächten um sechs über den Wochenmarkt, um die Marktfrauen davon zu überzeugen, mir außerhalb ihrer Geschäftszeiten etwas zu verkaufen – damit ich danach ungestört den ganzen Tag lang schlafen konnte. Mit Mitte 30 bespaßte ich dann sehr frühmorgens meine hellwachen Kleinkinder. Nur dass ich das nicht als eine spirituelle Wachstumserfahrung verbuchte. Eher als eine etwas lästige Lebensphase. Aber das waren die Nullerjahre, da durfte auch noch in Lokalen geraucht werden, und Ausschlafen galt nicht gleich als ausgeprägte Charakterschwäche.

Jetzt also noch mal mit Gefühl. Sonntag mache ich Pause – ich muss mich erst mal vom Stress der letzten Nacht erholen. Am Montag lasse ich es dann softer angehen und starte erst um halb sieben zu einer dynamischen Walking-Runde an der Elbe, weit weg von Sitz- und Liegemöbeln. Im Treppenhaus finde ich mich noch heldenhaft, aber auf der Straße bin ich bereits Mainstream. Für andere scheint es vollkommen normal zu sein, schon jetzt vor die Tür zu treten. Gemütliche Gassigeher, fokussierte Fahrradfahrerinnen, leistungsorientierte Läufer. Elstern, Putztrupps, Möwen. Der letzte Hippie Hamburgs sitzt in einem Batikshirt auf einer Wiese, um den Tag zu begrüßen. Schon schön, so ein lichtdurchfluteter Frühherbstmorgen. Ich frage mich kurz, ob ich dasselbe warme Gefühl für einen nieseligen Novembertag aufbringen könnte, verdränge den Gedanken aber sofort wieder.

Neuer Morgen, neues Glück

Munter und wirklich guter Dinge buche ich für den nächsten Tag ein morgendliches Work-out im nahe gelegenen Park und ignoriere die Tatsache, dass es erst um acht beginnt. Um fünf gab’s halt noch keinen Kurs! Die erste Übung finde ich gleich richtig gut: den inneren Kern stärken, nur mit Atmen. Im herabschauenden Hund bekomme ich allerdings bereits mitleidige Blicke von Gassigehern. Wow, wie anstrengend! Zur Erholung lege ich mich später zu Hause flach auf den Wohnzimmerboden und lasse eine Meditation laufen, die “Inner Garden” heißt. Eine Flöte flötet, und eine Stimme zirpt positive Affirmationen von irgendetwas mit Liebe und Schätzen in mir. Irgendwann fällt der Satz: “Geld fließt mühelos in mein Leben.” Jetzt bin ich wirklich wach. Und schaue gleich mal nach, ob es schon da ist, dieses Geld in meinem Leben.

Neuer Morgen, neue Kombi, neues Glück? Ingwertee von innen, kaltes Wasser von außen. Die Hamburger Schwimmbäder haben nämlich ihren eigenen Frühclub. Um 6:30 Uhr bin ich sicher die Erste. Denkste! Denn als ich dort ankomme, stehen bereits etwa 20 Menschen vor dem Drehkreuz: Rentnerinnen, Schichtarbeitende, Erfolgstypen. Und ich ganz hinten, die Warmduscherin. Zehn Minuten später befinden sich bereits alle im Freibecken, während ich noch mit meinem großen Zeh vorfühle. Nach der Überwindung kommt die Überraschung, dann die große Frische: Wasser und Bewegung machen mich auf einen Schlag lebendig. Fast schon euphorisch. Warum habe ich das nicht schon früher gewusst? Gleich darauf korrigiert mich eine der Badekappenträgerinnen freundlich, aber bestimmt: “Sie schwimmen genau in meiner Bahn!” Hier hat alles seine Ordnung, als würden die Krauler mit ihrem konzentrierten Gepflüge den Tag überhaupt erst in Gang bringen. Während ich meine Geraden ziehe, optisch mehr Dackel als Delfin, kommt mein Hirn so richtig auf Betriebstemperatur. Welche drei Tagesziele notiere ich mir denn nachher mal auf ein Post-it? Was wäre wohl der perfekte Dreiklang? Beruflich, privat, spirituell?

Je länger ich denke, desto mehr verzettle ich mich. Vielleicht, weil ich das mit den schriftlichen Tageszielen ein wenig albern finde. Das ist für mich ein bisschen so wie Leute, die behaupten, sie würden ihre Wünsche beim Universum bestellen und dann auch tatsächlich bekommen. Vielleicht ist meine Entscheidungsschwäche aber auch lediglich der erste Vorbote von den Nebenwirkungen meines Lerchenprojekts. Für ein paar Tage war ich wirklich euphorisch. Dann kam der Kater. Während ich also von Tag zu Tag weiter mit Workouts, Selbstsuggestion und gesunden Heißgetränken experimentiere, überfällt mich zu Unzeiten eine bleischwere Müdigkeit – mal vormittags am Schreibtisch, mal nachmittags im Supermarkt. Ist ja eigentlich logisch: Wer früher aufstehen will, muss auch früher schlafen. Das hatte ich ehrlicherweise nicht bedacht. Ab jetzt heißt es also: Abendessen, Zähneputzen, Heia.

Macht Frühaufstehen wirklich alles besser?

Das geht zwei, drei Tage lang gut, dann gleicht mein Schlaf wieder einem löchrigen Schweizer Käse. Ich wache vor Mitternacht auf und bin schlecht gelaunt, weil ich den Lieblingsteil meines Tages verpasse. Abende mit Freunden, Mann, Kindern. Nach Mitternacht schrecke ich ständig hoch und bilde mir ein, ich hätte den Fünf-Uhr-Wecker überhört. Gesund ist das nicht. In der Nacht zum nächsten Montag, gegen drei Uhr fünfundvierzig, checke ich meinen Kontostand. Vielleicht ist ja inzwischen wenigstens das Geld geströmt. Ist es nicht. Irgendwas läuft hier grundlegend schief. Vermutlich ist es nicht nur mein Biorhythmus, der meine Morgenroutine sabotiert, sondern auch mein Selbstbild. Solange ich mich eher als halbintellektuelle Eule im Existenzialistenrolli sehe denn als durchoptimierte Size-Zero-Lerche, wird das alles nichts. Ich muss das wollen, wirklich wollen! Aber will ich das? Bin ich dann noch ich? Sollte ich eines Tages wirklich Mandarin lernen wollen, dann kann ich das auch abends um neun – dann ist es fünf Uhr früh in Schanghai. Dieser Gedanke beruhigt mich so sehr, dass ich auf der Stelle einschlafe.

Um kurz nach sechs werde ich von selbst wieder wach und beschließe, einen letzten Morgenspaziergang zu machen. Als ich nach Hause komme, haben mein Mann und meine Tochter schon gefrühstückt, nur der 14-Jährige schläft wieder einmal bis zum Gehtnichtmehr. Ist halt mein Sohn. In fünf Minuten werde ich ihn wecken. Bis dahin: ein kurzer Moment, in dem niemand etwas von mir will, nicht mal der Tag selbst. Einmal kurz die Balkontür auf und durchatmen. Vielleicht ist es das: eine kleine Zeitspanne als Puffer, bevor der tägliche Wahnsinn losbricht. Ohne Workout, Zitronenwasser und Vokabeln. Morgenroutine light sozusagen – so könnte es vielleicht doch noch etwas werden. Nur über diese Sache mit dem Geld müssen wir wirklich noch mal reden.

Verena Carl wollte zu Recherchezwecken unbedingt das Buch “Der Fünf-Uhr-Club” lesen. Ist aber leider immer eingeschlafen

Heftbox Barbara

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