durchdacht: Hirnforscher erklärt: Warum können wir nicht aufhören nachzudenken, wenn wir schlafen möchten?

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Unser Gehirn ist genial, doch manchmal gibt es uns im Alltag Rätsel auf. Wieso zum Beispiel lassen uns unsere Gedanken abends oft nicht zur Ruhe kommen, obwohl wir dringend schlafen möchten? Der Neurobiologe Professor Doktor Martin Korte hat es uns erklärt.

Mal wieder so eine Nacht. Eigentlich müsste ich längst schlafen. Vor etwa einer Stunde, als ich noch in meinem Wohnzimmer auf dem Sofa saß, war ich bereits so müde, dass ich quälende zehn Minuten lang mit mir ringen musste, bis ich aufstehen, mir die Zähne putzen und mich endlich ins Bett fallen konnte. Doch kurz nachdem mein Kopf seinen Platz auf meinem Kissen gefunden hat, kommen die Gedanken:

Hätte ich die Schuhe vielleicht doch lieber eine Nummer größer bestellen sollen? Wahrscheinlich sind sie mir zu klein und in der richtigen Größe nicht mehr verfügbar, wenn ich sie in ein paar Tagen nachordern möchte. Womöglich ist das dann aber ein Zeichen, dass ich die Schuhe gar nicht kaufen sollte. Ich lasse es mal darauf ankommen und schaue, was passiert. Oder soll ich sie jetzt noch schnell bestellen? Wären ideal für meinen Urlaub. Oh Mann, den muss ich ja noch beantragen. Aber dafür muss ich erstmal entscheiden, ob ich ihn lieber im August oder September nehme. Im September hat meine Schwester Geburtstag, was schenke ich ihr eigentlich? …

Und irgendwo in meinem Innern läuft dazu als Begleitmusik Post Malone mit “Circles” in Dauerschleife.

Wo ist eigentlich dieser Aus-Knopf, wenn man ihn braucht? Warum kann ich, genau wie viele andere Menschen, manchmal partout nicht aufhören nachzudenken, wenn ich schlafen möchte – und noch dazu furchtbar müde bin? Darüber habe ich mit dem Neurobiologen Professor Doktor Martin Korte gesprochen. 

Gedanken und Vorstellungen können Stressreaktion in Gang setzen

“In so einem Moment kommen in der Regel mehrere Aspekte zusammen”, sagt der Hirnforscher. “Eine wichtige Rolle spielt dabei grundsätzlich, dass das, was unser Gehirn simuliert, eine körperliche Reaktion herbeiführen kann. So vermag etwa die Vorstellung einer bedrohlichen Situation Stress in uns auszulösen, auch wenn wir wissen, dass die Bedrohung nicht real ist.”

Allein die Vorstellung, dass ich im Urlaub ohne Schuhe dastehe, führe zu einer Stressreaktion und zu einem Anstieg des Adrenalin- und/ oder Cortisolspiegels in meinem Blut. Beide Hormone sind Wachmacher, die meinen Kreislauf in Schwung bringen: Mein Blutdruck steigt, mein Herzschlag beschleunigt sich. Das wiederum registriert mein Gehirn – und dreht den Lautstärkeregler meines inneren Plattenspielers direkt noch ein bisschen hoch. Party is on. Statt einzuschlummern, mache ich mir Gedanken über Urlaubsplanung, Geburtstagsgeschenke, die Beantragung eines neuen Reisepasses, ein Bücherregal, das ich längst hätte besorgen müssen, da sich die Bücher auf meinem Wohnzimmerboden stapeln, und dann wieder über Schuhe. Run away, but we’re running in circles. Ich mag diesen Song. Aber nicht, wenn ich schlafen möchte.

Ungelöste Probleme sind Schlaffeind Nummer eins

“Oft wird diese Gedankenkaskade, die Menschen vom Einschlafen abhält, dadurch ausgelöst, dass sie kurz vor dem Zubettgehen noch schnell etwas auf dem Handy nachgeschaut oder erledigt haben”, sagt Martin Korte. So könne beispielsweise die Reaktion auf eine Nachricht, die wir geschrieben haben, oder, noch gefährlicher, keine Reaktion in uns Fragen anstoßen à la “habe ich etwas falsch gemacht?”, “wie ist das jetzt gemeint?” und so weiter. Fragen wiederum, das heißt offene, ungelöste Problemstellungen, sind kurz vor dem Einschlafen verhängnisvoll, denn: “Wenn es etwas gibt, auf das unser Gehirn empfindlich reagiert, sind das Unklarheit und offene Fragestellungen”, sagt Martin Korte. Ungeklärte Konflikte sind für unser Hirn ein Graus. Und sehr stressig. Gegen ein ungelöstes Problem hat Müdigkeit im Prinzip kaum eine Chance, wenn es uns einmal ins Bett gefolgt ist.

Die Gefahr, auf ungeklärte Konflikte zu stoßen, ist allerdings nicht das einzige Argument, das dagegen spricht, kurz vor dem Schlafengehen noch am Handy herumzuhängen: Das Licht, das Smartphones, Tablets und sonstige moderne Bildschirme aussenden, insbesondere das blaue Licht, stört unseren Schlaf-Wachrhythmus. “Die Zapfen in unserem Auge, also die Fotorezeptoren, senden ein Signal an die Hirnregion, die unseren 24-Stunden-Tagesrhythmus kontrolliert, dass es noch nicht an der Zeit sei zu schlafen, wenn sie blaues Licht erkennen”, erklärt der Hirnforscher. Blaues Licht interpretieren wir als ein Signal für Tag, deshalb rät der Neurobiologe Smartphones und Co. gegen Abend, wenn überhaupt, dann nur im Nachtmodus zu benutzen, in dem das Blaulicht unterdrückt wird.

Neurologisch sinnvolle Abendroutinen

Insgesamt könne eine “gute Schlafhygiene” Martin Korte zufolge einiges dazu beitragen, dass Gedankenkaskaden zur Schlafenszeit eher eine Ausnahme in unserem Alltag blieben: Nach Möglichkeit jeden Abend ungefähr zur selben Uhrzeit ins Bett gehen, vorher mindestens eine gute halbe Stunde Abstand von sämtlichen Bildschirmen nehmen und kein allzu helles Licht einschalten, nicht zu spät zu schwer essen, nicht direkt nach dem Power-Workout ins Bett gehen (das sollte am besten zwei bis drei Stunden vor der angepeilten Schlafenszeit abgeschlossen sein). Die Raumtemperatur in unserem Schlafzimmer liegt idealerweise zwischen 17 und 20 Grad und ein heißes Bad oder eine heiße Dusche am Abend kann ebenfalls helfen (in diesem Artikel findest du weitere Einschlaftipps). Sollte uns dann aber doch einmal eine knifflige Schuh-Frage dazwischenkommen und wach halten, empfiehlt der Hirnforscher, das Bett zu verlassen und noch ein paar Minuten zu lesen – oder das Problem zu Ende zu denken, beziehungsweise die Frage aus der Welt zu räumen, indem wir die Schuhe vorsichtshalber einfach bestellen (im Nachtmodus, versteht sich), denn zurückschicken können wir sie ja immer noch.

Dass solche simplen, physischen Maßnahmen tatsächlich helfen, liegt daran, dass unser Körper und unsere Gedankenkaskaden sehr, sehr eng miteinander zusammenhängen. Unser Gehirn ist Teil unseres Körpers und unsere Gedanken sind dessen Produkt. Deshalb können Gedanken unseren Schlaf blockieren und äußere Faktoren, die unseren Füßen, unserer Haut, unserem Magen und den Zapfen in unseren Augen widerfahren, können sich auf unser Denken auswirken. Die Tatsache, dass es keinen Ausknopf gibt, über den wir unsere Gedanken und unseren inneren Plattenspieler einfach abstellen könnten, zwingt uns dazu, diesen Zusammenhang zu erkennen, zu akzeptieren und ihn zu respektieren. Außerdem kann uns diese Tatsache dazu motivieren, unser Leben so einzurichten, dass am Ende des Tages nicht allzu viele ungelöste Probleme offen bleiben, die uns den Schlaf rauben. Vor diesem Hintergrund ist es womöglich ganz gut, dass es diesen Ausknopf nicht gibt, vielleicht sogar genial. Ich bin jedenfalls dankbar dafür, wenn ich recht drüber nachdenke. Damit zu hadern, bedeutete ja doch nur einen weiteren, unnötigen Konflikt, der mich nachts wachhalten würde.

© PR

Professor Doktor Martin Korte ist Neurobiologe und Leiter der Abteilung “Zelluläre Neurobiologie” an der Technischen Universität Braunschweig. Seine Forschungsschwerpunkte sind unter anderem zelluläre Grundlagen von Lernen und Gedächtnis sowie Wechselwirkung zwischen Immunsystem und Gehirn bei der Entstehung der Alzheimer Erkrankung. In seinen Büchern “Hirngeflüster“, “Wir sind Gedächtnis“ und “Jung im Kopf“ bereitet er Erkenntnisse aus der Hirnforschung alltagsrelevant und für ein breites Publikum auf. Fernsehzuschauer:innen kennen Martin Korte vielleicht aus der RTL-Quizshow mit Günther Jauch “Bin ich schlauer als …”, für die er die Fragen entwickelte.

Für unsere Kolumne “durchdacht” wird der Neurobiologe von nun an regelmäßig auf Phänomene eingehen, die uns in unserem Alltag Rätsel aufgeben und die uns über uns selbst stutzen lassen. Du möchtest ein solches Phänomen erklärt haben? Dann kannst du unserer Autorin deinen Themenvorschlag sehr gerne in einer E-Mail senden (schumann.susanne@guj.de).

Source: Aktue