Psychologie: Wundervolle Eigenschaften – und ihre Schattenseiten

Psychologie: Wundervolle Eigenschaften – und ihre Schattenseiten

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So gut wie alles hat mindestens zwei Seiten. Und selbst die großartigsten, wünschenswertesten Persönlichkeitsmerkmale haben ihre Haken.

In der Regel neigen wir als Menschen dazu, Dinge zu vereinfachen. Wir ziehen Grenzen, wo der Übergang fließend ist, ordnen aufgrund von ausgewählten Kriterien als gleich ein, was sich in anderen Kriterien völlig voneinander unterscheidet, und bewerten, was an sich gar keinen Wert hat. Ein Grund, dass wir das tun, ist ein starkes Bedürfnis nach Klarheit, mit dem wir von Natur aus ausgestattet sind. Und in vielen Fällen ist es unbedingt in unserem eigenen Interesse zu vereinfachen.

Trotzdem kann es nicht schaden, uns hin und wieder zu vergegenwärtigen, dass wir vereinfachen, und vielleicht sogar darüber nachzudenken, was wir im Zuge dessen ignorieren. Nicht, weil die Wahrheit, was auch immer das ist, überlegen wäre gegenüber unserer vereinfachten Version. Sondern weil es ärgerlich wäre, uns von einer Illusion in die Grütze führen zu lassen, deren Sinn eigentlich darin besteht, uns das Leben zu erleichtern. 

5 wundervolle Eigenschaften und ihre Schattenseiten

Ehrlichkeit

Ehrlichkeit ordnen wir normalerweise grundsätzlich als Tugend und Vorzug ein – völlig zurecht. Schließlich ist Ehrlichkeit eine Voraussetzung für Vertrauen und schenkt uns unsere geliebte, wohltuende Klarheit. Es gibt allerdings Situationen im Leben, in denen es wichtig ist, lügen zu können. Um andere Menschen zu schützen, um uns selbst zu retten, um Kriege zu verhindern. Es gibt Situationen, in denen Ehrlichkeit größeren Schaden anrichtet als Lügen – und in denen folglich auch ehrliche Menschen größeren Schaden anrichten als unehrliche. Wahrscheinlich ist es gut, wenn wir uns in erster Instanz generell darum bemühen, ehrlich zu sein. Doch es ist keine Schande, dass wir uns darum bemühen müssen und es uns nicht von Haus aus immer gelingt. Denn unfehlbar macht hundertprozentige Ehrlichkeit nicht.

Attraktivität

Attraktivität oder Schönheit bestaunen wir meist an anderen Menschen und wünschen sie uns für uns selbst. Verständlicherweise, denn dank Halo-Effekt haben attraktive Menschen unfairer Weise manchmal Vorteile. Dafür hat äußere Schönheit oft die Nebenwirkung, dass sie andere Eigenschaften eines Menschen überstrahlt. Dass sich niemand die Zeit nimmt, den Menschen anzuhören und kennenzulernen, weil alle von seiner Schönheit abgelenkt sind. Das mag Personen, die sich über alles wünschen attraktiver zu sein, verkraftbar erscheinen. Doch hübschen Menschen kann das wirklich wehtun und auch ihrem Selbstbild kann es erheblich schaden. 

Intelligenz

Als Menschen verfügen wir über eine vergleichsweise hohe Intelligenz, sonst könnten wir nicht schreiben, rechnen oder Verkehrsregeln befolgen. Wer allerdings mit einer überdurchschnittlich hohen Intelligenz begabt ist, hat dadurch nicht unbedingt nur Vorteile. So kann sie etwa zu Einsamkeit führen oder zu permanentem Frust. Sie kann grundsätzliche Selbstzweifel zur Folge haben oder Hass und Neid auslösen. Menschliche Intelligenz ist keine Superkraft, sondern ein Zufallsprodukt der Evolution. Es wäre sicher ein Problem, als Mensch so intelligent zu sein wie eine Stubenfliege. Doch mit einer herausragend hohen Intelligenz gesegnet zu sein, ist weder eine bewundernswerte Leistung noch eine Garantie für Glück, Erfolg oder ein erfülltes Leben.

Sensibilität

Sensibilität macht Menschen nicht nur sympathisch, sondern ist auch eine wichtige Fähigkeit, um tiefe, persönliche Beziehungen zu führen. Andererseits kann sie leicht zur Bürde werden und überfordern. Sensible Menschen verfügen über eine feine Wahrnehmung, sind sehr empfänglich für Reize und Eindrücke. Dadurch ist ihr Bild von der Welt und von anderen Menschen zwar sehr reich und vielfältig, doch zugleich anspruchsvoll und komplex.

Treue

Ähnlich wie Ehrlichkeit sehen wir in Treue tendenziell eine Tugend, nach der wir in jedem Fall streben können. In Beziehungen ist Treue für viele Menschen der wichtigste, unantastbarste Wert von allen. Eine fundamentale, sehr tief in einer Persönlichkeit verankerte Treue kann einen Menschen allerdings unflexibel und starr machen. Sie kann Anpassungen und Veränderungen im Weg stehen und am Loslassen hindern. Treue ist zweifellos wertvoll und schön. Doch nicht in jeder Situation ist es von Vorteil, durch Treue gebunden zu sein.

Fazit

Dass etwas Gutes und Wundervolles Schattenseiten hat oder in manchen Situationen von Nachteil ist, macht es keineswegs schlechter oder weniger wundervoll. Aus unterschiedlichen Blickwinkeln kann in unserer Wahrnehmung nicht ein und dasselbe Bild entstehen. Allerdings macht das auch das Bild nicht redundant. Es ist sicherlich nicht verkehrt, wenn wir uns vorstellen, wie wir sein möchten und was wir gegebenenfalls an uns verändern möchten und können. Doch das alles mit einem Schlag gut wäre, wenn wir anders wären, als wir sind, ist eine Illusion. Von dem Wunsch, Ideale zu erfüllen, können wir uns jedenfalls getrost verabschieden. Denn dann haben wir direkt mehr Aufmerksamkeit und Energie zur Verfügung, um den für uns bestmöglichen, erreichbaren Weg zu finden.

Verwendete Quelle: Kevin Dutton: “Schwarz. Weiß. Denken!: Warum wir ticken, wie wir ticken, und wie uns die Evolution manipulierbar macht”

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